Autor: sokratisgeorgiadis

Jürgen Joedicke: Chronist der Nachkriegsarchitektur

Obwohl er ein Buch vorgelegt hatte, in dem er um die Darlegung „historischer Zusammenhänge innerhalb der modernen Architektur“ bemüht war, sei er doch kein Bauhistoriker, sondern Architekt, „der sich bauend, lehrend und schreibend mit den Problemen heutiger Umweltgestaltung auseinandersetzt“. Dies notierte Jürgen Joedicke (1925-2015) im Vorwort seines Buches Moderne Architektur – Strömungen und Tendenzen (1969), als müsste er sich bei seiner Leserschaft entschuldigen, vermeintlich unverrückbare Grenzen zwischen Disziplinen überschritten zu haben. Diese Aussage könnte im Nachhinein als captatio benevolentiae gedeutet werden; nötig hätte sie aber der Autor keineswegs gehabt. Schon seine Dissertation Konstruktion und Form, bei der es sich, wie es in deren Untertitel lautete, um eine „Untersuchung des Bauens von 1895 bis 1933 in Deutschland“ handelte, war eine historische Arbeit, unabhängig davon, dass sie an einem Lehrstuhl angefertigt wurde, an dem in seiner zwanzigjährigen Besetzung von Curt Siegel, der übrigens ebenfalls Architekt war, gleichzeitig oder sukzessive das Spektrum von Baukonstruktion bis Tragwerkslehre einschließlich Industriebau und konstruktivem Entwerfen, aber eben nicht die Architekturgeschichte, gelehrt wurde. Joedickes Habilitationsschrift, Geschichte der modernen Architektur – Synthese aus Form, Funktion und Konstruktion von 1958, die kurz darauf als Buch erschien, trug wiederum das Wort „Geschichte“ bereits in ihrem Titel. Die systematische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Architektur, der modernen Architektur wohlgemerkt, war Joedickes lebenslanges Anliegen, das sich in den drei erweiterten Folgeauflagen (1980, 1990, 1998) des eingangs genannten Buches von 1969 manifestierte, sowie in weiteren Publikationen zu historischen Teilaspekten der Architektur. Die „Moderne“ oder das „20. Jahrhundert“ als Zeitzeuge historisch zu begleiten, bestimmte in einem ausschlaggebenden Maße sein umfangreiches schriftstellerisches und editorisches Schaffen.

Als geschichtsschreibender Architekt stand Joedicke an der Universität Stuttgart, an der er promoviert und sich habilitiert hatte, zumindest bis zum Jahre 1970 in einer scheinbar kaum problematischen Gesellschaft, lag doch die Baugeschichte seit 1911, seitdem also das Fach institutionell den anderen Lehrstühlen der Universität gleichgestellt wurde, durchwegs in den Händen von Architekten.[1] Aber dennoch, seine Arbeit als Zeithistoriker war, zumindest im selben Stuttgarter Kontext keine Selbstverständlichkeit. Umstritten war die Objektivität der Zeitgeschichte und letzten Endes auch ihre Wissenschaftlichkeit. Es ist bezeichnend, dass Joedicke trotz seiner historischen Interessen und trotz des historischen Grundcharakters seiner Doktorarbeit nicht an einem architekturhistorischen Lehrstuhl promovierte. Der damalige Lehrstuhlinhaber Harald Hanson ließ in seinen Vorlesungen die Architekturgeschichte etwa im Jahr 1800 aufhören[2] und an anderen deutschen Universitäten lagen die Dinge auch nicht viel anders: was nach 1800 kam, galt nicht als Gegenstand historischer Beschäftigung, bestenfalls als Gegenstand theoretischen Reflektierens.

Um dem möglichen Vorwurf der Nicht-Objektivität vorzubeugen, machte ihn nun Joedicke gewissermaßen sich selber, indem er beispielsweise seinem Vorwort von 1969 den Satz hinzufügte: „Die Architektur der Gegenwart enthält zwangsläufig, bei allem Willen zur Objektivität einen größeren Anteil nicht objektivierbarer Aussagen.“ Und in der 1980er Auflage des Buches hieß es: „Je mehr sich die Entwicklung der Gegenwart nähert, um so schwieriger sind Aussagen über die Zeittendenzen zu machen, und um so größer ist die Möglichkeit der Fehlinterpretation, weil die Nähe des Gegenstandes die Erfassung seiner Ausdehnung und Art hinderlich ist.“[3] „Für spätere Betrachter wird die Entwicklung der letzten Epoche überschaubarer sein als für denjenigen, der aus der Sicht der Epoche beschreibt. Ihm gegenüber darf er aber in Anspruch nehmen, Zeitgenosse zu sein und somit Details zu sehen, die dem zeitlich Fernstehenden schon wieder entrückt sind.“[4] In der 1998er Auflage des Buches[5] notierte er schließlich: „Wenn ein Betrachter einen Spiegel aufstellt, um darin das Bild der eigenen Zeit und ihrer Architektur einzufangen, so wirft dieser Spiegel stets auch das eigene Bild des Betrachters zurück.“ Die Spiegel-Metapher hatte Joedicke wohl von Sigfried Giedion entliehen, der sich bereits Jahrzehnte davor ähnlich geäußert hatte: „Die Geschichte ist ein Zauberspiegel: Wer in ihn hineinblickt sieht sein eigenes Bild in Gestalt von Entwicklungen und Geschehnissen.“[6] Mit dem Unterschied, dass Giedion nicht nur von der Geschichte der eigenen Zeit sprach, wie Joedicke, sondern von der Geschichte generell. Und anders als Joedicke hatte der Schweizer Kunsthistoriker und Verfasser der über lange Zeit populärsten Apologie der modernen Architektur, Space, Time and Architecture (1941) mit der Geschichte und mit dem speziellen Fall der Zeitgeschichte keine Berührungsängste. Genauso wenig Nikolaus Pevsner vor ihm, der 1936 seine Pioneers of the Modern Movement vorlegte oder Reyner Banham, der knapp nach Joedickes Habilitation sein Theory and Design in the First Machine Age (1960) publizierte, in dem er sich mit Aspekten der Architektur des 20. Jahrhunderts bis 1933 befasste.[7]  Gemäß Anthony Vidler haben solche ‚Geschichten‘, „Histories of the Immediate Present“, nichts grundsätzlich Problematisches oder gar Verwerfliches. Seine Untersuchungen zu den Historikern Emil Kaufmann, Colin Rowe, Reyner Banham und Manfredo Tafuri,[8] hätten hingegen eine geheime, gleichwohl unausweichliche Übereinkunft zwischen Geschichte und Entwerfen ergeben, die, wie Vidler hervorhob, zu einigen der interessantesten architektonischen Experimenten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geführt hätten.

Bemerkenswert ist nun, dass die Historiker, die vor dem Zweiten Weltkrieg schrieben, es bewusst vermieden hatten, den Eindruck entstehen zu lassen, ihre Arbeiten seien gewissermaßen historische Überblicksdarstellungen einer mehr oder weniger abgeschlossenen Periode der Geschichte der Architektur. Daher verzichteten sie auf das Wort „Geschichte“ in den Titeln ihrer Werke. Der Untertitel von Pevsners „Pioneers“, „From William Morris to Walter Gropius“, suggerierte zwar das Vorhandensein einer historischen Kontinuitätslinie, der Haupttitel jedoch wies darauf hin, dass diese Entwicklung noch im Entstehen begriffen sei. Giedion tat es mit seinem „Space, Time and Architecture“ nicht viel anders, einem Buch, von dem er sagte, dass es sicher keine Geschichte der modernen Architektur sei.[9] Alberto Sartoris wiederum überschrieb seine „Sintesi panoramica dell’architettura moderna“ von 1932, in der er sicherlich auch um ihre zeithistorische Einordnung interessiert war, mit „Gli elementi dell’architettura funzionale“. Erst nach den 1950er Jahren erschienen umfassende Darstellungen der Moderne, so Bruno Zevis „Storia dell’architettura moderna“ (1950), Henry Russell Hitchcocks „Architecture: Nineteenth and Twentieth Centuries“ in der Reihe „The Pelican History of Art“ (1958) und Leonardo Benevolos Buch „Storia dell’architettura moderna“ (1960), die sich selbst explizit als „Geschichten“ auswiesen. Diesem Prinzip folgte auch Joedicke in seiner „Geschichte der modernen Architektur – Synthese aus Form, Funktion und Konstruktion“ von 1958.

Dieses Buch stand nun ganz im Zeichen des konstruktiven Interesses seines Verfassers beziehungsweise der Wechselwirkung zwischen Konstruktion und architektonischer Form und kann in dieser Hinsicht als Fortführung seiner Doktorarbeit von 1953 angesehen werden.[10] Damals untersuchte Joedicke fünfzehn Bauwerke, die in der Zeitspanne zwischen 1895 und 1933 entstanden waren, angeblich keine, die zu Zwecken der Repräsentation errichtet worden waren, sondern industrielle Bauten, Geschäftshäuser, Warenhäuser, Ausstellungbauten, große Hallen, Speicher und Lagerhäuser, also solche, die mit Aufgaben der modernen Produktion und des modernen Konsums im Zusammenhang standen, darunter ein Lagerhaus von Theodor Fischer in Stuttgart-Ostheim, Peter Behrens‘ Turbinenhalle der AEG in Berlin-Moabit, Gropius-Meyers Faguswerk in Alfeld an der Leine, Max Bergs Jahrhunderthalle in Breslau, Max Tauts und Franz Hoffmanns Verbandshaus der Deutschen Buchdrucker in Berlin, das Verwaltungsgebäude der IG Farben von Hans Poelzig in Frankfurt am Main und Erich Mendelsohns Columbushaus in Berlin. 1895 war das Jahr, an dem schon Gustav Adolf Platz „Die Baukunst der neuesten Zeit“[11] einsetzen ließ, 1933, das Ende der untersuchten Periode, fiel mit Hitlers Machtantritt zusammen. Joedicke stellte eine aus vier Kategorien bestehende Matrix auf, nach der er alle fünfzehn Objekte einheitlich untersuchte: (1) Steckbrief des Objekts, (2) Formbeschreibung, (3) Konstruktionsbeschreibung, (4) Beziehung zwischen Konstruktion und Form. Am interessantesten, weil detailliert und kenntnisreich, waren dabei die Beschreibungen der jeweiligen Tragwerksysteme. Obwohl Joedicke betonte, das Ziel seiner Arbeit bestünde nicht darin „Werturteile zu fällen, sondern (die besprochenen Bauten) zu charakterisieren“, konnte er sich subjektiven Bewertungen kaum entziehen. Und damit schimmerte durch seine Darstellung schon etwas, was man im weitesten Sinne als architektonische Position bezeichnen könnte. Die Form, auf die es in diesen Architekturen letztlich ankam, fand seine Zustimmung nur in dem Maße, wie sie aus den konstruktiven Gegebenheiten und den Möglichkeiten des Materials erwuchs. Jede formale Geste, die sich nicht in Konstruktion und Material begründen lassen konnte, lehnte er ab. Im Teil der Arbeit, das der „Auswertung der Analysen“ gewidmet war, gruppierte Joedicke seine Beispiele nach drei Kategorien, deren Sukzession sich als eine Art historische Entwicklungslinie präsentierte.  Am Anfangspunkt dieser Linie stand eine Architektur, bei der die eindeutige Betonung auf der Form lag, an deren Ende Bauwerke, bei denen die Form sich aus den Erfordernissen des Materials und der Konstruktion ergab. Zwischen diesen beiden Polen schaltete sich eine Zwischenkategorie ein, bei der die Merkmale der beiden anderen koexistierten, jedoch nicht im Sinne einer Synthese, sondern als Zwischenstadium, als Übergang, denn Joedickes Leitbild war eine Gestaltung aus der Konstruktion heraus, keine, die ganz oder teilweise um der Form willen erfolgte. An dieser Stelle wurde die Deskription zur Präskription und zwar eine, die ausschließlich von einem recht rigorosen konstruktiven Determinismus geleitet war.

Diese Linie wurde von Joedicke in seinem 1958er Buch, Geschichte der modernen Architektur wieder aufgegriffen und fortgeführt mit dem Unterschied, dass hier nicht einzelne Bauwerke, scheinbar gleichwertig, im Mittelpunkt standen, sondern Meister und Meisterwerke. Die Erzählung folgte dem vermeintlich bewährten narrativen Muster der Hofhistoriker der Moderne. Zu Beginn wurden noch einmal alle modernistischen Stereotypen zur Architektur des 19. Jahrhunderts durchdekliniert: „Zeit des allgemeinen Niedergangs“, „Plünderung der Vergangenheit“, „formalistische Erstarrung“, „Stilkarneval“. Allein der Ingenieurbau glänzte als bahnbrechende bauliche Materialisierung von Modernität, während die Architektur nur insofern Beachtung fand, als sie sich (in seltenen Fällen) neuer Materialien und Konstruktionsverfahren bediente. Danach kam die „Abkehr vom Eklektizismus“ und der Advent der modernen Architektur. „Modern“ war dabei kein Zeit- oder Epochenbegriff; die Vokabel wurde vielmehr in emphatischem Sinn gebraucht, ohne jedoch jemals recht definiert zu werden. Was modern sei, konnte nur indirekt ermittelt werden, vor allem aufgrund dessen, was die Erzählung in sich aufnahm und was sie ausblendete. Dass bereits in diesem Auswahlprozess der Objektivitätsanspruch, den der Verfasser bereits in seiner Dissertation erhoben hatte, scheiterte, schien ihn nicht sonderlich gekümmert zu haben oder ihm gar aufgefallen zu sein, entsprach er schon damals modernistischen Denkgewohnheiten. Mit Blick auf die moderne Architektur hielt Joedicke in der Einleitung des Buches fest: „Künstlerisches Schaffen und technisches Denken widersprechen sich nicht mehr wie im neunzehnten Jahrhundert, sondern bilden die Pole, zwischen denen sich der Bogen unserer heutigen Architektur spannt.“ (1958, 11). Allerdings konnte hier das in der Dissertation suggerierte Schema, wonach die Technik gewissermaßen als Motor der architektonischen Entwicklung wirkte, nicht mehr durchgehalten werden. Damit ging aber auch der Entwicklungsgedanke überhaupt verloren und die aneinander gereihten Ereignisse – die sich in der Zeitspanne etwa eines halben Jahrhunderts abspielten – erschienen trotz ihrer faktischen Ungleichzeitigkeit beinahe synchron. An die Stelle des Entwicklungsgedankens traten nun eben die unangefochtenen drei großen Meister der Moderne, Walter Gropius, Mies van der Rohe, Le Corbusier, die den Ton im gesamten Buch angaben; vor ihnen Frank Lloyd Wright, nach ihnen Alvar Aalto. Die fünf Architekten waren die Gravitationspunkte, die das modernistische Firmament zusammenhielten (sie waren gleichsam die einzigen, die im Buche monographische Abschnitte erhielten). Die Schwierigkeiten, die der Primat der Konstruktion verursachte, wurden bereits im Abschnitt über F. L. Wright sichtbar. Dem „Pionier“ musste nämlich vorgeworfen werden, dass er, selbst als er sich in späteren Jahren entschied, in seinen Bauten Stahlbeton und Stahl einzusetzen, „diese Materialien kaum als konstituierende Elemente einer neuen architektonischen Gestaltung“ verwendete (J. 1958, 33f.). Dennoch, die Insistenz auf die Dominanz der Großmeister blieb ungebrochen. Dies führte soweit, dass zuweilen Vorgänger als Nachfolger erschienen. De Stijl und Suprematismus figurierten etwa unter dem Kapitel „Ausbreitung und Entwicklung“, direkt nach dem Kapitel „Die Meister der modernen Architektur“ (Gropius, Mies, Corbusier), als seien diese Bewegungen Folgeerscheinungen und nicht Voraussetzungen. Bauwerke wurden sowohl im ersten (historischen) Teil des Buches als auch im zweiten (das unterschiedlichen Architekturlandschaften gewidmet war) in der Regel als Einzelobjekte betrachtet, Fragen ihrer städtebaulichen oder allgemein kontextuellen Anbindung lediglich peripher angeschnitten. Fragen wiederum der sozialen, politischen und ökonomischen Entstehungsbedingungen von Architektur blieben weitgehend unberührt und von solchen der Konstruktion und der Suche nach der „Formensprache“, die mit ihr zu harmonieren hatte, überschattet. Die inflationäre Verwendung des Wortes Sprache zur Kennzeichnung des Umgangs mit architektonischer Form und architektonischem Raum im ganzen Buch, prägte zumindest im deutschen Südwesten den architektonischen Jargon jahrzehntelang. Dessen Einsatz (auch in der Folge des Buches von 1958) markierte einen zunehmend dominant werdenden Formalismus in Joedickes Architekturagenda. So hielt er nur wenige Jahre später fest, dass er Architektur nicht als Antithese zum Bauen verstehe, sondern „in der Wortverbindung Moderne Architektur als Stilbegriff“.[12] Damit stellte er sich aber gegen die Modernisten der 1920er und 1930er Jahre, die der Idee des Stils, zumal in ihrer Verbindung mit der „Modernen Architektur“ stets eine deutliche Abfuhr erteilten.[13] Die Historiographen der Moderne machten es den Objekten ihrer Bewunderung gleich. Aber auch zur Frage des Formalismus selbst äußerte sich Jödicke explizit: Für viele Architekten, schrieb er, habe dieser Begriff eine negative Bedeutung, weil er ein unzulässiges Auseinandergehen von Form und Inhalt impliziere. Wie wolle man aber „Inhalt“ in der Architektur definieren, wenn doch Fragen der Zweckerfüllung, das Materials, der Konstruktion und des Raumes, also die vermeintlichen Inhalte der Architektur, sich dem steten Wandel unterworfen seien? Die Form als Ausgangspunkt – als sozusagen unabhängige Variable – könne durchaus, Möglichkeitsursache selbst für die Inhalte der Architektur sein, schlussfolgerte er und setzte der Sullivanschen Doktrin „form follows function“ Jacob Bakemas Diktum „form evokes function“ entgegen. Dies alles tat freilich dem grundsätzlichen und bedingungslosen Bekenntnis Joedickes zur modernen Architektur keinerlei Abbruch. Nicht zuletzt äußerte sich diese Affinität im Namen seines von ihm im Jahre 1969 an der Universität Stuttgart gegründeten Instituts: „Institut für Grundlagen der modernen Architektur und Entwerfen.“

Der Formalismus-Passus befand sich in Joedickes Buch Moderne Architektur – Strömungen und Tendenzen[14], das gut zehn Jahre nach der Geschichte der modernen Architektur erschien. Mit dieser Publikation begann ein editorischer Marathonlauf, der drei Jahrzehnte währen sollte, und den man gewissermaßen als eine Chronik der Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnen könnte. Das Buch wurde viermal aufgelegt, um mit den jeweils neuesten Entwicklungen weltweit Schritt halten zu können und dementsprechend erweitert zu werden. Es gehörte zur Tragik dieses Unterfangens, dass der Autor die Eklipse des Objekts seiner Begierde, das kein anderes als die Moderne Architektur war, selbst als dessen Chronist erzählend begleiten musste. Dieser Umstand drückte sich gleichsam auch in den Verschiebungen aus, die der Titel des Werks in diesen Jahren erfuhr. Am Anfang (1969) war die (noch intakte) moderne Architektur Bestandteil des Titels. Zehn Jahre später nicht mehr: Architektur im Umbruch[15] lautete der Titel der Neuauflage von 1980. 1990 wandelte er sich wieder einmal in Architekturgeschichte im 20. Jahrhundert[16] und so blieb er bis zur letzten Auflage im Jahre 1998[17]. Im Untertitel der Titelseite des Buches erfuhr man erst, dass darin nur die Zeitspanne von 1950 bis zur Gegenwart behandelt wurde.[18] Das änderte jedoch nichts daran, dass der Autor im Titel nun einzig und allein den zeitlichen Rahmen seiner Untersuchung anzeigte, ohne auf ein bestimmtes architektonisches Paradigma zu fokussieren.

In Moderne Architektur – Strömungen und Tendenzen von 1969 setzte Joedicke zur Ordnung der Ereignisse, über die er berichtete, den Begriff der „Epoche“ ein. Demnach bestünde die Moderne Architektur aus drei unterschiedlichen Epochen (1917-1929; 1930-1939; 1949 bis Ende der 1960er Jahre) mit jeweils erkennbar distinkten Merkmalen. Was sie als Epochen qualifizierte und nicht etwa als „Perioden“, oder – umgekehrt gefragt – womit sich trotz allen Unterschieds die einheitliche Bezeichnung „Moderne Architektur“ rechtfertigte, erklärte der Autor zunächst nicht. Ein zweiter Ordnungsbegriff, den er verwendete, war derjenige der Generation. Er erlaubte ihm, das gleichzeitige Wirken verschiedener Altersgruppen innerhalb einer einzigen „Epoche“ oder Periode einzufangen, dies entsprach der von Wilhelm Pinder bekannten „‘Ungleichzeitigkeit‘ des Gleichzeitigen“.[19] So wirkten innerhalb der „Epoche“, der Joedickes Hauptinteresse galt und auf die es ihm letztlich ankam – namentlich der „dritten Epoche der modernen Architektur“ – alle drei „Generationen“ gleichzeitig. Gleichzeitigkeit bedeutete aber für ihn keineswegs Gleichwertigkeit. Die Architekten der beiden ersten Generationen, besonders die der ersten, waren  für das Schaffen der Generation, die die Bühne nach dem zweiten Weltkrieg betrat,  „Voraussetzungen“ nicht nur im biologischen Sinne (d.h. allein aufgrund der Tatsache dass sie älter waren als diese), sondern weil sie die Leitbilder der aktuellen architektonischen Tätigkeit bereitstellten – auch mit ihrem nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Werk: „[V]or den jungen Architekten des Jahres 1950“, schrieb er, „[stand] übermächtig das Vorbild der Begründer der Modernen Architektur, die noch selbst schöpferisch tätig waren. Die Auseinandersetzung mit ihrem als vorbildlich empfundenen Werk bestimmte zunächst das Schaffen der jungen Architekten“ (S. 31). Die Generation der Begründer, des architektonischen Dreigestirns Gropius-Mies-Le Corbusier zumal, schien die epochenübergreifende Kontinuität der Moderne zu gewährleisten. Ob sich die Jüngeren je von ihren Vätern emanzipiert haben, ob es je eine ödipale Befreiung innerhalb dieses quasi familiären Verbunds namens „Moderne“ jemals gegeben hat? Eher nicht, denn mit dem biologischen Ende der lichtspendenden Senioren schien nicht nur die moderne Architektur zu Ende zu gehen, sondern genauso das methodische Gerüst, das das historische Konstrukt Joedickes zusammenhielt. Die abschließenden Abschnitte des Buches in seiner 1969er Version handelten von neuen Entwicklungen der Architektur, die gegen Ende der 1960er Jahre eintraten, und, nach Einschätzung des Verfassers, nichts mehr und nichts weniger als den Charakter einer Zäsur im Kontinuum der Moderne aufwiesen. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer „veränderten Architekturauffassung“ und verband sie mit einem umfassenden gesellschaftlichen Wandel, der in dieser Periode weltweit im Gange war. Gekennzeichnet sei er vom rapiden Bevölkerungswachstum, von einem dramatischen Zuwachs des tertiären zuungunsten des primären und sekundären Sektors der Produktion und – damit einhergehend – von einer Beschleunigung des Verstädterungsprozesses, von einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen Arbeits- und Freizeit mit einer deutlichen Ausdehnung der zweiten usw. Architektonisch relevant seien diese Entwicklungen, da sie vor allem eine nie dagewesene Zunahme an Raumbedarf bewirkten. Zur Lösung der neu entstehenden Aufgaben bedurfte es, nach Joedickes Ansicht, einer gründlichen Erneuerung des Instrumentariums der Architektur, das von ihm im Wesentlichen in Richtung einer Intensivierung der Modernisierungsprozesse des Bauens unter technokratischem Vorzeichen gedacht wurde: Industrialisierung des Bauens, Forcieren der wissenschaftlichen Forschung im Bauwesen, Einführung neuer Planungsmethoden, Interdisziplinarität. An diesem kritischen Punkt äußerte Joedicke einen mit Blick auf seine möglichen Folgen kaum zu überschätzenden Zweifel, ob nämlich der Architektenberuf angesichts des neuen sich formierenden Umfeldes in seiner hergebrachten Definition weiter bestehen könne. Die Tätigkeit des Architekten in ihrer aktuellen Form erscheine jedenfalls anachronistisch, stellte er kategorisch fest (161). Eine Fragmentierung wiederum des Planungs- und Bauprozesses, die als mögliche Folge seiner gewachsenen Komplexität eintreten würde, und die Verteilung der einschlägigen Zuständigkeiten an einzelne Spezialisten, hätte auf die „Schaffung einer menschenwürdigen Umweltgestaltung“ verheerende Folgen. Die Diagnose endete mit einer Aporie.

Struktur und Inhalte von Moderne Architektur – Strömungen und Tendenzen blieben in den folgenden Auflagen des Buches im Wesentlichen unverändert und bildeten den Stamm, dem sich die Entwicklungen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre sukzessive anfügten. Der Autor verzichtete darauf, die hinzugekommenen Geschehnisse als „Epoche“ beziehungsweise als „Epochen“ zusammenzufassen. Auch die Generationengeschichte fand keine Fortsetzung. Paradoxerweise sah sich der Autor aber auch nicht veranlasst, die Tauglichkeit des sich um die Kategorien „Epoche“ und „Generation“ spannenden methodologischen Gerüsts, das er für die Periode 1917-1969 angewendet hatte, zu überprüfen und es womöglich zu revidieren. Der Kontinuitätsbruch nach Verlassen des Königswegs der Moderne wurde begleitet von einem methodologischen Bruch. Die Geschichte nach den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten erschien nunmehr als Kollage von mehr oder weniger zusammenhanglosen Einzelepisoden. Aber doch nicht ganz!

In Architektur im Umbruch, der zweiten, im Jahre 1980 erschienenen Auflage des Buches berichtete Joedicke mitunter von einem neuen Phänomen, das nun, im achten Jahrzehnt des Jahrhunderts in Erscheinung getreten war: die Postmoderne,[20] eine Auflehnung gegen den Modernismus, die in Joedickes Augen im Zeichen der Kritik an der Fixierung der Moderne auf den Funktionsbegriff, ihrer Zeichenlosigkeit und ihrem Bestehen auf die Einheitlichkeit des formalen Ausdrucks stand. Er wies diese Kritik vollumfänglich zurück mit dem Argument, dass die Moderne selbst ein überaus vielfältiges und vielgestaltiges Phänomen war, dass sogar ihre Geschichtsvergessenheit eher rhetorisch als substanziell zu betrachten sei. Bei dieser Gelegenheit griff er Stirlings und Wilfords Stuttgarter Staatsgalerie, wohl ein repräsentatives Beispiel der neuen Richtung, frontal an. Insgesamt bezeichnete er die Postmoderne als „Kultur der Spätzeit“: „raffinierter Geschmack statt Ursprünglichkeit, Collagen fremder Formen statt Schaffung eigener Formen“. Im selben Zusammenhang regte er schließlich im letzten Abschnitt des Buches zum ersten Mal an, die Postmoderne als Symptom eines umfassenden Zugs „unserer Zeit“ zu betrachten, dem er die Signatur „Manierismus“ verlieh.[21] Dabei verstand er Manierismus nicht in stilistischen Begriffen, sondern eher als sozusagen rezidivierende kulturelle Störung von relativ geringer Dauer, die aber wiederum – wie die späteren Auflagen des Buches vor Augen führten – lang genug war, um als Hintergrund des Geschehens der letzten drei Jahrzehnte des architektonischen Zwanzigsten Jahrhunderts zu dienen. Die Wurzeln des Manierismus neuester Prägung wurden dabei in den 1950er Jahren (am Anfang stand Saarinens TWA-Terminal im New Yorker J.F.K.-Flughafen) verortet. Diese Idee begleitete nun Joedicke bis zur letzten Auflage des Buches (1998). Der Wortlaut des genannten Abschnitts blieb in den zwei Auflagen der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, die Architektur im Umbruch folgten, abgesehen von geringfügigen Korrekturen und knappen Additionen, im Wesentlichen gleich. In einem eher zögerlichen Deutungsversuch des Phänomens Manierismus in den Schlussfolgerungen von Architektur im Umbruch stellte Joedicke die Frage, ob „die heute vorhandenen manieristischen Tendenzen nur die Unruhe der Zeit wider[spiegelten] oder […] innovative Elemente für eine unveränderte [?] Architektur“[22] enthielten. Seine Berichte darüber ließen aber durchaus die Vermutung zu, dass, der vermeintliche Manierismus als Geburtshelfer des Neuen kaum tauge. Anders gewendet: die Idee des Manierismus war alles in allem eine Hilfskonstruktion, die Joedicke (und nicht nur er) einsetzte, um mit dem Skandalon der Postmoderne fertig zu werden, mit dem Ausdienen der Moderne nämlich, nachdem sie sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, also in den ‚formative years‘ Joedickes, als neuer Kanon der Architektur etabliert hatte. Joedicke vermied stets das allzu pointierte Urteil und beklagte daher auch die Neigung der Architekten zu Extremen (1980, 223; 1990, 250). Von diesem Blickpunkt her gesehen, könnte die Manierismus-Diagnose gewissermaßen als Versöhnungsangebot betrachtet werden, das einerseits eine „Überprüfung und Relativierung der Ansätze der Moderne“ (1990, 251) zuließ und im gleichen Atemzug die Feststellung erlaubte, „die Postmoderne [habe] durchaus heilsame Folgen gehabt“ (1998, 258). Schließlich ließ der Manierismus die Aussicht auf eine Neuetablierung des Kanons, somit des Endes der Verlegenheit zu.

„Architektur gedeiht nicht im luftleeren Raum“ schrieb Joedicke in seinen Schlussfolgerungen (1980, 193; 1990, 194). Diese Aussage betraf dort, wo sie formuliert wurde, ihre Historizität. Doch Joedickes eigene Geschichtserzählung erweckte sehr oft eben diesen verstellenden Eindruck und dies nicht nur im Hinblick auf die Geschichte der Disziplin, sondern vor allem hinsichtlich ihrer multiplen Abhängigkeiten und Verstrickungen mit dem politischen und sozialen Leben, ohne die sie weder denkbar noch erklärbar gewesen wäre. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer Normalisierungsabsicht sprechen, die tunlichst darum bemüht war, die Architektur aus den Kampf- und Konfliktzonen der politischen Auseinandersetzungen des Jahrhunderts herauszuhalten. Die gähnende Lücke zwischen den Jahren 1939 und 1949, ebenso das Schweigen über ihre Voraussetzungen und noch mehr über ihre Folgen war das vielleicht hervorstechendste Beispiel dafür. Ausgeblendet wurde schließlich von Joedickes Historie die Theorie, die Architektur als diskursive Praxis versteht und die sie erst in ihrem Status als erstrangige kulturelle Disziplin zu bestätigen vermag, sie eben nicht als bloßes Karussell wechselnder Kostüme und Moden erscheinen lässt.


[1] Christiane Fülscher u.a. Geschichte des Instituts für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart, in: Klaus Jan Philipp und Kerstin Renz (Hrsg.). Architekturschulen: Programm – Pragmatik – Propaganda. Tübingen, Berlin: Wasmuth, 2012, 95-113.

[2] ebd. 104.

[3] Jürgen Joedicke. Architektur des 20. Jahrhunderts – Von 1950 bis zur Gegenwart. Stuttgart und Zürich: Karl Krämer Verlag, 1980, 21.

[4] Ebd. 23.

[5] Genauso wie die 1990er Auflage erschien sie unter dem Titel Architektur des 20. Jahrhunderts von 1950 bis zur Gegenwart. Stuttgart und Zürich: Karl Krämer Verlag, 1980, 5.

[6] Sigfried Giedion. Mechanization Takes Command – A Contribution to Anonymous History (1948). Deutsche Ausgabe: Die Herrschaft der Mechanisierung. Frankfurt/M. Europäische Verlagsanstalt, 1982, 19. Die Spiegel-Metapher erscheint in Giedions Dissertation im Jahre 1922 zum ersten Mal: „Eine vergangene Zeit ist wie ein Spiegel, der immer nur die Züge dessen wiedergibt, der hineinblickt. Spätbarocker und romantischer Klassizismus. München: F. Bruckmann, 1922, 9.

[7] Deutsche Ausgabe: Die Revolution der Architektur – Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter (=rde 209/210). Reinbek b. Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1964.

[8] Anthony Vidler. Histories of the Immediate Present – Inventing Architectural Modernism (= Writing Architecture Series). Cambridge MA: The MIT Press, 2008. 

[9] Sigfried Giedion an Philip C. Johnson, 15. März 1948: “I never wrote a history of contemporary architecture”. Archiv S. Giedion, gta/ETH Zürich.

[10] Jürgen Joedicke. Konstruktion und Form – Eine Untersuchung des Bauens von 1895 bis 1933 in Deutschland (Dissertation der Technischen Hochschule Stuttgart). Typoskript mit z.T. angeklebten Fotorepros. Stuttgart 1953.

[11] Gustav Adolf Platz. Die Baukunst der neuesten Zeit. Berlin: Propyläen Verlag in Verbindung mit der „Bauwelt“, 1927.

[12] Heinrich Lauterbach und Jürgen Joedicke.  Hugo Häring – Schriften, Entwürfe, Bauten (= Dokumente der modernen Architektur Bd. 4). Stuttgart: Karl Krämer Verlag, 1965. Der Satz findet sich im von Jürgen Joedicke verfassten Vorwort: S. 5.

[13] Diesen Weg hatte bereits 1902 Hermann Muthesius mit seiner bahnbrechenden Schrift „Stilarchitektur und Baukunst“ gewiesen.

[14] Jürgen Joedicke. Moderne Architektur – Strömungen und Tendenzen. Stuttgart: Karl Krämer Verlag, 1969. Das Buch war Bd. 7 der unter der Herausgeberschaft Joedickes beim Krämer-Verlag erschienenen Reihe „Dokumente der Modernen Architektur – Beiträge zur Interpretation und Dokumentation der Baukunst“. Eines der großen Verdienste dieser Reihe war, dass sie als Transmissionsriemen internationaler Architekturentwicklungen der Nachkriegszeit auf die deutsche Architekturszene fungierte. Besonderer Schwerpunkt war das Werk der Architektinnen und Architekten des TEAM 10. Hier: S. 139.

[15] Jürgen Joedicke. Architektur im Umbruch – Geschichte-Entwicklung-Ausblick. Stuttgart: Karl Krämer Verlag, 1980.

[16] Jürgen Joedicke. Architektur des 20. Jahrhunderts – Von 1950 bis zur Gegenwart. Stuttgart/Zürich: Karl Krämer Verlag, 1990.

[17] Jürgen Joedicke. Architektur des 20. Jahrhunderts – Von 1950 bis zur Gegenwart. Stuttgart/Zürich: Karl Krämer Verlag, 1998.

[18] Die amerikanische Auflage des Buches, erschien im Jahr 1969 als Übersetzung von Moderne Architektur – Strömungen und Tendenzen unter dem Titel Architecture Since 1945 (New York, Washington: Praeger). In der Frage nach dem Beginn der Erzählung gab es also eine gewisse Unsicherheit.

[19] Wilhelm Pinder. Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. Leipzig: E. A Seemann 1928 (1926).

[20] Joedicke 1980, S. 192f.

[21] Die Überschrift des Abschnitts lautete: „Die heutige Zeit – eine Epoche im Zeichen manieristischer Tendenzen?“. In der folgenden Auflage (1990) wurde das Fragezeichen vom Titel gestrichen, der sich wiederum in der letzten Auflage in „Zum Problem des Manierismus in unserer Zeit“ wandelte. 

[22] Der entsprechende Paragraph wurde in der nächsten Auflage gekürzt; in der letzten wurde sogar auf Schlussfolgerungen insgesamt verzichtet.

90 JAHRE ‚FUNKTIONELLE STADT‘

Die „Charta von Athen“ gilt heute noch als das städtebauliche Manifest der modernen Bewegung. Sie geht zurück auf den 4. Kongress der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM), diesem wichtigen Architektenzusammenschluss (1928-1956), der auf einem Dampfer auf der Fahrt Marseille-Athen-Marseille vom 29. Juli bis zum 13. August 1933 stattfand. Etwa 100 hauptsächlich Architektinnen und Architekten aus verschiedenen europäischen Ländern hatten sich dabei vorgenommen, über 30 europäische und nicht-europäische Städte auf der Grundlage einheitlicher Kriterien zu analysieren, um die vermeintlichen und tatsächlichen Probleme und Missstände der modernen Stadt festzustellen und in einem weiteren Schritt Richtlinien für die Planung der Stadt der Gegenwart und Zukunft zu entwickeln. In diesen Tagen jährt sich das 90. Jubiläum dieses auch für den nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit praktizierten Städtebau überaus folgereichen Kongresses. Aus diesem Anlass wird der vorliegende Text zum ersten Mal in deutscher Sprache präsentiert. Er befasst sich mit dem 4. Kongress und legt einen besonderen Akzent auf die ihm vorangegangenen Debatten, aus denen die unterschiedlichen Positionen zum Thema und die daraus sich ergebenden Konfliktlinien besonders plastisch hervortreten. (Erstpublikation in englischer Sprache in: Evelien van Es u.a. (Hg.), Atlas of the Functional City, Bussum and Zurich, 2014). SG, Juli 2023    

Sokratis Georgiadis

FUNKTION UND KOMPARATIVE METHODE

CIAM 4: Versuch einer theoretischen Rekonstruktion

Die außerordentliche CIAM-Tagung am 4. und 5. Juni 1931 in Berlin stellte in zweifacher Hinsicht einen wichtigen Meilenstein auf dem Wege zum 4. CIAM-Kongress dar, der zwei Jahre später unter dem Titel „Die funktionelle Stadt“ stattfinden würde. Einerseits weil in Berlin die von Cornelis van Eesteren vertretene holländische Gruppe die Richtlinien zum Kongress präsentierte und zudem am Beispiel der Stadtanalyse von Amsterdam das Muster vorlegte, nach dem die verschiedenen nationalen Gruppen bei der Untersuchung „ihrer“ Städte vorzugehen hatten und damit gleichsam den verbindlichen Rahmen für die 34 Stadtanalysen setzte, die dann im Kongress selbst tatsächlich vorgestellt wurden. Andererseits weil in der Tagung anlässlich der Debatte um methodische Fragen der Stadtanalyse – der einzigen tiefgreifenden theoretischen Auseinandersetzung um grundsätzliche Fragen der urbanen Wirklichkeit vom Zeitpunkt an, an dem die Stadt zum Thema des 4. Kongresses deklariert wurde,[1] bis zum Ende des Kongresses selbst – zwei konträre weltanschaulich grundierte Auffassungen über die Stadt an die Oberfläche gerieten, die zwar nicht zu einem offenen Konflikt, aber doch stillschweigend zur Klärung der Machtverhältnisse innerhalb der CIAM führten – mit prägender Wirkung auf das Profil und die Ausrichtung der Organisation.

Ohne explizite ideologische Referenzen positionierten sich die Exponenten des ersten Pols dieser Debatte als Verfechter einer wertneutral wissenschaftlichen, positivistischen Auffassung; sie legten den Schwerpunkt auf eine deskriptive Erfassung des modernen Stadtphänomens mittels Kartierung und schriftlichen Berichts und trugen ihre allerdings eher spärlichen normativen Aussagen in mehr oder weniger reformistisch/technokratischen Begriffen vor. Die Vertreter des zweiten Pols hingegen sahen die Stadt als Abbild von Produktions- und Machtverhältnissen, erkannten also auch an den Missständen der modernen Stadt ein fundamentales systemisches Problem und bekannten sich hinsichtlich der Analyse des urbanen Phänomens zum historischen Materialismus. Eine Veränderung der Stadt war für sie wiederum mit einer Veränderung des gesellschaftspolitischen Systems untrennbar verknüpft.

Der bei Eröffnung der Berliner Tagung in der Nachfolge von Karl Moser als Präsident der CIAM bestätigte Cornelis van Eesteren, war Wortführer der ersten der zwei genannten Positionen. An der Berliner Tagung erläuterte er, wie erwähnt, die auf Beschluss der Vorbereitungskommission zum 4. Kongress, die am 15. Februar 1931 in Zürich getagt hatte, von der holländischen Gruppe erarbeiteten Richtlinien für den Kongress. Bei der Aufstellung dieser Richtlinien, so betonte van Eesteren, habe die Gruppe angenommen, „dass wir, um überhaupt über die Stadt reden zu können, zunächst einen Einblick in den Begriff ‚Stadt‘ haben müssen, dass wir zuerst irgendwie wissen müssen, was überhaupt eine Stadt ist.“[2] Auf diese sokratische Frage[3] gingen der Richtlinien-Text und van Eesteren auf ähnliche Art ein wie der antike Philosoph. Man könne nach einer Sache suchen, von der man nicht wisse, was sie sei, indem man sich an ein Vorwissen oder Vorverständnis derselben zurückerinnere, in dessen Besitz man sich befinde, sagte Sokrates im platonischen Dialog Menon.[4] Ihm ging es um Fragen der Moral, van Eesteren hingegen um konkrete materielle, historisch entstandene Gebilde. Daher ist es verwunderlich, dass das Vorwissen oder Vorverständnis des Phänomens sich beim holländischen Architekten – und obwohl van Eesteren selbst mehrmals auf den Wert der Erfahrung bei dessen Erfassung hinwies – nicht auf die es konstituierenden empirischen Tatsachen stützte: die Häuser, die Straßen, die Plätze, die sie bewohnenden Menschen, sondern auf einen abstrakten Begriff, den Begriff der Funktion. Der Erinnerungshorizont schien dabei nicht sehr weit zurückzuliegen, hatte doch bereits der Gründungskongress der CIAM im Jahre 1928 die Stadt aufgrund ihrer vermeintlichen Funktionen: das Wohnen, das Arbeiten, die Erholung und der zu ihrer Erfüllung notwendigen Mittel: die Bodenaufteilung, die Verkehrsregelung und die Gesetzgebung definiert.[5] In den Richtlinien hieß es nun: „Der Begriff ‚Funktionelle Stadt‘ geht davon aus, dass die Grundfunktionen der Stadt: Wohnen, Arbeiten, Erholung, mit dem Verkehr als bindendes Element, für die Stadtform bestimmend sind.“[6] Der etwas unglücklich gewählte Begriff „Stadtform“ sprach dabei sicher nicht die ästhetische Sphäre an, er besaß auch keine stadtbaukünstlerischen Konnotationen, sondern wurde als deskriptiver Begriff verwendet, um einen nicht weiter definierten, aber auf alle Fälle schwer greifbaren „verzweigten Komplex“ (als der die Stadt in den Augen van Eesterens erschien) zu bezeichnen.[7] Um diesen zunächst sehr vagen  Stadtbegriff zu präzisieren, sollte man – wie vom Richtlinienentwurf bereits vorgesehen war und von van Eesteren in Berlin bestätigt wurde – „analytisch-kritisch in Bezug auf die bestehende Stadt – synthetisch-aufbauend in Bezug auf die neue Stadt “ vorgehen und sich dabei auf eine recht breite Grundlage von zahlreichen Fallbeispielen stützen, die es im Zuge dieses zweistufigen Vorgangs miteinander zu vergleichen galt.

Dabei war der Terminus „neue Stadt“ von Anfang an zweideutig. Wie van Eesteren in seiner Einführungsrede erläuterte,[8] waren damit sowohl die Reparatur vorhandener Städte als auch Stadtneugründungen gemeint, wie sie beispielsweise in der Sowjetunion seit den Beschlüssen des Fünfjahresplanes von 1929 vorangetrieben wurden. Angesichts des ursprünglich geplanten Austragungsorts des Kongresses in Moskau bekam letzterer Aspekt einen besonderen Stellenwert.

Einige Delegierte gingen gegenüber der von van Eesteren vertretenen Position deutlich auf Distanz. Zeitweilig schien sich sogar eine Opposition gegen den Leitdiskurs zu formieren.

So sprach Arthur Korn der von der holländischen Gruppe vorgeschlagenen Methodik, besonders der Kartierung der zu untersuchenden Städte zwar nicht jeden Wert ab, fügte aber hinzu, dass diese nur „ein geringer Ausschnitt der Arbeit“ sei,[9] „die auf dem Gebiet geleistet werden muß“. Er nutze seine Stellungnahme zu einem sozusagen seminaristischen Rückblick auf die Stadtgeschichten von Paris, London und Berlin, um dadurch aufzuzeigen, dass eine Einsicht in die Entwicklungsgesetze der Stadt nach einer historischen Analyse unter Anwendung der historisch-materialistischen Methode verlange, was die aufgestellten Richtlinien zum 4. Kongress völlig ignorierten.  Dabei seien die spezifischen historischen Produktionsweisen und Klassenverhältnisse die ausschlaggebenden Faktoren für den jeweiligen Charakter, den eine Stadt annehme. Was vorgeschlagen wurde, gab Korn zu verstehen, bilde nur den gegenwärtigen Zustand der Stadt ab und sei ungeeignet, zu Schlussfolgerungen darüber zu führen, „wohin sich voraussichtlich die weitere Entwicklung bewegen wird.“[10] „Auch aus der Sammlung der 30 verschiedenen Pläne“, sagte er an anderer Stelle, „wird sich im Grunde genommen immer dasselbe Bild ergeben. Nach grosser Mühe wird sich ein zwar sehr exaktes, schliesslich aber auch sehr langweiliges Resultat ergeben.“[11]Auf ähnliche Weise argumentierten die Vertreter der Tschechoslowakei, so der Bauhäusler und Hannes-Meyer-Vertraute Peer Böcking sekundiert von Nasim Nesis. Diese, sich ebenfalls zum Marxismus bekennenden Teilnehmer misstrauten dem Empirismus der von den Holländern eingeschlagenen Linie. „Die Tatsachen sind wunderbar“ sagte Nesis, „aber man ist hilflos, man konstatiert die Fakten und kann nicht die Verbindungen herstellen, kann nicht erklären, warum eine Stadt wie Amsterdam in den Zustand gekommen ist, in dem sie sich heute befindet.“[12] Uneinig war sich diese Gruppe allerdings darüber, ob man den analytischen Teil der Arbeit historisch-materialistisch ausweiten, um die Triebkräfte der Stadtentwicklung offen zu legen und zu verstehen,[13]oder ihn nach Möglichkeit kurz halten sollte, um ohne große Verzögerung zur Projektierung der „neuen Stadt“ überzugehen.[14] Letztere Einstellung entsprach den Absichten auch anderer Teilnehmer, wie z. B. des polnischen Vertreters Szymon Syrkus, der behauptete,  dass der analytisch-kritische Teil der bestehenden Städte „von grossem Interesse für theoretisch-wissenschaftlich arbeitende Historiker“ sei, für den aber „die im Städtebau praktisch tätigen Architekten keine Zeit vergeuden sollten.“[15]

Dass soziopolitische Fragen eine eminente Relevanz für den Städtebau besäßen, stellte (vielleicht mit Ausnahme Alvar Aaltos) keiner der Teilnehmer der Berliner Tagung in Frage. So bemerkte Gropius, dass die Sozialstruktur Anfangspunkt der städtebaulichen Diskussion sei[16] Ebenso Erich Mendelsohn, der zugleich für einen Pluralismus der Weltanschauungen innerhalb des Kongresses eintrat[17] und der Belgier Raphaël Verwilghen, der die systemstabilisierende Funktion des Städtebaus hervorhob.[18] Johann Wilhelm Lehr verwies auf die Abhängigkeit des Städtebaus vom jeweiligen politisch-ökonomischem System.[19] Der Schwede Uno Åhrén machte auf die taktischen Aspekte beim Umgang mit soziopolitischen Fragen im Städtebau aufmerksam,[20] während Szymon Syrkus die gesellschaftspolitische Wirksamkeit von Architektur und Städtebau betonte. [21] Ernst May stellte schließlich  in aller Deutlichkeit heraus, dass sich am Städtebau die Scheidung der beiden  gesellschaftspolitischen Systeme, des Sozialismus und des Kapitalismus unmittelbar abbilde.[22] Die Holländer van Eesteren und Willem van Tijen und die Schweizer Giedion, Rudolf Steiger und Werner Moser schwiegen sich aber  während des gesamten Verlaufs der Tagung über die Frage einfach aus. Angesichts dieser Sachlage erscheint das Ausmaß der Irritation, die eine Intervention Mies van der Rohes zu eben dieser Frage auslöste, recht erstaunlich. In seiner gewohnt lakonischen Art sagte Mies zu einem Zeitpunkt als die Beratungen des ersten Sitzungstages ziemlich weit fortgeschritten waren: „Ich glaube, der Kongreß ist vor zwei Fragen gestellt. Die erste Frage lautet: ist Städtebau im Wesentlichen eine politische Frage? Die zweite Frage heißt: soll oder kann sich der Kongreß damit befassen?“[23] Seine eigene Indifferenz gegenüber gesellschaftspolitischen Fragen – und darin war er Aalto gar nicht unähnlich – hatte er ein Jahr davor in aller Klarheit artikuliert: „Die neue Zeit ist eine Tatsache; sie existiert ganz unabhängig davon, ob wir ‚ja‘ oder ‚nein‘ zu ihr sagen. Aber sie ist weder besser noch schlechter als irgendeine andere Zeit. Sie ist eine pure Gegebenheit und an sich wertindifferent.“[24] Für Mies war also die Sache klar, und weil sie klar war, konnte sein Berliner Zwischenruf nur als Provokation gedacht gewesen sein. Er ist auch als solche angekommen. Der gegenüber den CIAM stets reservierte und vorsichtig distanzierte Mies, hatte in Wirklichkeit und in zugespitzter Form (Mendelsohn) den wunden Punkt der Tagung getroffen. Die theoretisch gar nicht so versierten marxistischen Teilnehmer, die während der gesamten Tagung nichts anderes versucht hatten, als den Städtebau als genuin politische Frage zu diskutieren, wehrten sich vehement gegen ihn. Denn wäre die aus allen ihren Aussagen durchscheinende Forderung nach Politisierung des Kongresses tatsächlich in den Mittelpunkt gestellt worden, wären sie also ernsthaft vor die Aufgabe gestellt worden, ihre Position argumentativ zu verteidigen, kämen ihre ganze theoretische Unsicherheit und programmatische Blöße an die Oberfläche. Die Holländer und Schweizer wiederum, die mit der unermüdlichen Unterstützung von Walter Gropius die Berliner Sitzung in harmonischer Allianz bestritten, waren während ihres gesamten Verlaufs bemüht, alle aufkommenden Differenzen verfahrenstechnisch zu neutralisieren. Sie wollten möglichst schnell und schmerzlos das in Zürich im Winter desselben Jahres Beschlossene auch in Berlin in seiner nun erweiterten und präzisierten Form bestätigt wissen und durchsetzen. Und Mies Intervention drohte gerade das zu verhindern. So blieb der Funke, der mit seinem kurzen Beitrag augenblicklich aufblitzte, letztlich folgenlos.

Über diese taktischen Schachzüge ihrer Urheber hinaus hatten aber auch die Leitlinien zum Kongress, die der Berliner Tagung zur endgültigen Bestätigung vorgelegt wurden, empfindliche Schwachstellen, die nicht zuletzt in den Diskussionen an den beiden Sitzungstagen direkt oder indirekt sichtbar wurden.

Die wenigsten der Teilnehmer der Berliner Tagung gingen auf die Inhalte der Richtlinien ein, deren Kern ja die Untersuchung der bestehenden Stadt unter dem Gesichtspunkt der „vier Funktionen“ bildete. Manche konnten selbst mit dem Begriff „Funktion“ nichts anfangen: Am extremsten brachte dies der tschechische Delegierte Nesis zum Ausdruck: „Es gibt keine funktionelle Stadt“, sagte er. „Die Stadt hat keine Funktionen“![25]Andere wiederum, wollten sich mit der Verbindlichkeit der „graphischen Normen“, die von der holländischen Gruppe für die Kartierung vorgelegt wurden, nicht abfinden und forderten ihre grundlegende Überprüfung. So hielt der schwedische Vertreter Åhrén andere, bereits angewandte Systeme der Stadtanalyse für tauglicher, ohne jedoch welche davon zu nennen. [26] Der belgische Vertreter Verwilghen sprach von der Abhängigkeit der Stadt von „ökonomischen Funktionen“ und regte das Herausgreifen aus dem Gesamtzusammenhang und die Untersuchung einer einzigen der „vier Funktionen“,  der „Arbeit“, an, womit die Eigenschaft der Stadt als „wirtschaftlicher Faktor“ zum Ausdruck käme.[27] Ernst May machte darauf aufmerksam, dass analytische Werkzeuge, die man bei der Untersuchung kapitalistischer Städte entwickelt habe, sich bei ihrer Anwendung auf die sozialistische Stadt als untauglich erweisen mussten.[28] Charakteristisch ist,  dass selbst der Begriff „funktionelle Stadt“ in den Stellungnahmen der meisten Teilnehmer der zweitägigen Versammlung gemieden wurde.

Dem Titel des Kongresses – „Die funktionelle Stadt“ – haftete vor dem Hintergrund seines Programms von Anfang an eine gewisse Ambiguität an, die in den Debatten im Vorfeld und in den Verhandlungen während des 4. CIAM-Kongresses sichtbar wurde.  Er konnte als deskriptiver Begriff aufgefasst werden, bezeichnend für die Intention, die Stadt aus der Perspektive ihrer Funktionen zu betrachten, aber auch als präskriptiver, in dem Sinne, dass der Kongress auf die Entwicklung der Mittel und Instrumente abzielte, die die Überführung der Stadt in ein funktionierendes Ganzes ermöglichen würden. Für die zweite Variante sprechen die Diskussionen um den Titel des Kongresses. Der Begriff „funktionelle Stadt“ ergab sich als Konsensbegriff[29] nach einem recht mühsamen Gärungsprozess, während dessen zunächst andere Alternativen zur Disposition standen, so „Der Weg zur neuen Stadt“ (Gropius), „Der Weg zur organischen Stadt“ (May) und „Die konstruktive Stadt“ (Häring). Auf letztere Variante hatte man sich sogar zunächst geeinigt. Alle diese Titelvorschläge bezogen sich auf das urbane Zukunftsprojekt, nicht auf die Bestandsaufnahme der aktuellen Stadt.[30]     

Wie die Berliner Debatte zudem zeigte, war die Fokussierung auf den Begriff „Funktion“ nicht unproblematisch. Niemand schien sich darüber im Klaren zu sein, was darunter wirklich gemeint und zu verstehen war. Diese Unklarheit blieb bis zum Ende des Kongresses bestehen – und darüber hinaus! Bis heute wird der Begriff in der Architekturvulgata inflationär gebraucht. Nichtsdestotrotz hat sich an seiner Unschärfe und Fragilität nichts geändert. In der einschlägigen Forschung scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass der Terminus „Funktion“ sich auf einem semantischen Feld bewegt, auf dem Eigenschaften der Architektur wie ihre Gebrauchsdienlichkeit, ihre Annehmlichkeit, ihre Nützlichkeit, ihre Zweckmäßigkeit und (bei deutschsprachigen Rednern) ihre Sachlichkeit angesprochen oder verhandelt werden,[31] allesamt Begriffe, über die es seit der vitruvischen „Utilitas“ eine zweitausendjährige Tradition des Nachdenkens in der Architektur gibt und die oft so verwendet wurden und immer noch werden, als wären sie gegenseitig beliebig austauschbare Synonyme.[32] Der Begriff der „Funktion“ in der architekturspezifischen Rede war allerdings neueren Datums und wurde seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts als Teilvermögen des Gesamtsystems Architektur und stets in Kombination mit ihren anderen Vermögen betrachtet, so dem konstruktiven und/oder dem formal-ästhetischen. Was nun aber den modernistischen Diskurs allgemein und den CIAM-Funktionalismus im Besonderen von den ihm vorangegangenen Auffassungen unterschied, war die rigorose Loslösung der Funktion von konstruktiven Belangen und formalem Ausdruck, und ihre ausschließliche Anbindung an eine soziale Problematik.[33] Für die moderne Architektur war die Auslegung des Begriffs Funktion in einem derart exklusiven Sinn spätestens seit Adolf Behnes „Der moderne Zweckbau“ festgestellt.[34] Die Übertragung des Funktionsgedankens auf den Städtebau wiederum war, so nebulös die Vorstellungen darüber auch sein mochten, eine Aufgabe, der sich vor allem die CIAM seit ihrer Gründung annahmen. Die Folgen dieser Bemühung können kaum überschätzt werden. Mit der völligen Lostrennung der funktionalen von formalen und konstruktiven Erwägungen erfolgte eine Verschiebung des architektonischen Selbstverständnisses. Die Architektur und mit ihr der Städtebau mutierten im Bewusstsein ihrer modernen Akteure zu einer mit baulichen Mitteln operierenden Sozialtechnik und der Diskurs darüber hob vom Feld der einschlägigen Denktraditionen der Disziplin ab. Eine Archäologie des Funktionsbegriffs müsste folgerichtig das architekturtheoretische Bezugsfeld verlassen und sich auf jenes der Sozialwissenschaften begeben. Dessen genaue Erfassung im Falle der CIAM fällt aber auch unter solchen Gesichtspunkten schwer.[35] Denn wonach die Richtlinien zum Kongress zunächst verlangten und was dann auch in den Verhandlungen im Kongress selbst im Sommer 1933 als Basis der Diskussionen vorgelegt wurde, waren Pläne von 34 Städten mit darauf ausgewiesenen Nutzungsbereichen, gegliedert nach den Kategorien oder „Funktionen“ Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr. Legitim wäre zunächst die Frage, ob diese Kategorien umfassend genug und differenziert genug waren, um die Komplexität der Stadt, die nicht nur der Präsident der Organisation feststellte, vollständig zu beschreiben. Die wiederholt vorgetragene Forderung nach Einfachheit bei ihrer Bestandsaufnahme[36] schien jedenfalls dem grundsätzlichen Befund der Komplexität direkt zu widersprechen. Das war jedoch nur die Spitze des Eisbergs, denn das gravierendste Problem bestand darin, dass die auf den Karten eingezeichneten Bodennutzungen noch gar keine Funktionen darstellten. Höchstens als räumliche Kristallisation funktionaler Abläufe könnten sie aufgefasst werden. Aber selbst da ginge das Hauptmoment einer funktionalistischen Sicht der Stadt abhanden. Denn – folgt man dem soziologischen Paradigma –[37]  sind funktionale Abläufe Anpassungsprozesse an „vorgegebene materielle Milieubedingungen“. Dies wiederum erfordert eine Vorstellung vom Normalzustand, auf den die Anpassungsleistung hinzielt. Nicht nur das prozessuale Moment fehlte aber den Karten,[38] sondern auch die Vorstellung eines zu erreichenden Normalzustandes der Stadt. Nicht zufällig war der Hauptvorwurf, der gegen die von der holländischen Gruppe und ihren Befürwortern vorangetriebene Ordnung des Diskurses erhoben wurde, dass diese lediglich auf Momentaufnahmen der zu untersuchenden Städte hinausliefe. Keine Frage, von den Karten, die 1933 präsentiert wurden, ging eine unwiderstehliche Faszination aus, die man heute noch durchaus teilen kann. Diese Faszination aber war hauptsächlich ästhetischer Natur, also gehörte einem Bereich an, der aus der Agenda von CIAM 4 prinzipiell ausgeschlossen war. Es fragt sich also, ob die gewählte Darstellungsform der gestellten Aufgabe tatsächlich entsprach. Eine Analyse auf funktionalen Gründen bedürfte womöglich nicht so sehr des Stadtgrundrisses mit darauf aufgetragenen diagrammatischen Elementen, sondern eher des abstrakten Diagramms ohne Stadtgrundriss, einer Wirkungsoberfläche von Funktionen und materiellen Wirklichkeiten, in einem vorerst noch formlosen, nicht konfigurierten Zustand.[39] Dies würde gleichsam erlauben, über den Normalzustand, den zu definieren man ohnehin nicht imstande war, hinauszugehen, den Kongress gleichsam zum Labor der Zukunft zu verwandeln. Man ließ ja keine Gelegenheit aus, um zu betonen, dass die CIAM-Kongresse im Gegensatz zu gewöhnlichen Kongresspraktiken Arbeitskongresse waren. Hier bot sich die Möglichkeit, den Nachweis dafür zu führen. Die Rolle des Diagramms wurde letztlich gewissermaßen dem verbalen Bericht übertragen. Wirft man jedoch einen Blick auf die Dokumentation der Vorträge zu den einzelnen untersuchten Städten, die am 30. und 31. Juli und am 11. August 1933 an Bord von Patris II erfolgten, so fällt deren Ertrag enttäuschend mager aus.[40]

Was nun den „Normalzustand“ angeht, der ja den „eindeutig fixierten Maßstab“ anzugeben hätte, woran gemessen werden könnte, was jeweils funktional und was dysfunktional sei, so stimmt es nicht ganz, dass jede Vorstellung davon gefehlt hatte. Diese Vorstellung wurde aber – und das war eben auch für die Soziologie von Auguste Comte bis über die zeitliche Schwelle von CIAM 4 hinaus nicht untypisch –[41]metaphorisch oder analogisch artikuliert. Effektives Funktionieren der Stadt: das Muster dazu biete der gesunde lebendige Organismus. Der vorhandenen oder der zukünftigen Stadt? – Der Stadt schlechthin!  Der Titelvorschlag zum 4. Kongress seitens Erst Mays legt davon Zeugnis ab. Noch mehr die Eröffnungsrede Cornelis van Eesterens zur Ausstellung des Kartenmaterials des 4. Kongresses, die 1935 im Amsterdamer Stedelijk Museum organisiert wurde: Van Eesteren begann seine Rede mit der Frage: „Warum funktionelle Stadt?“ Und gleich danach erläuterte er: „Man spricht von der Funktion eines Teils eines lebenden Organismus, wenn man die besondere Wirksamkeit dieses Teils angeben möchte. Das Herz, die Lungen müssen gut funktionieren, falls dieses Gebilde – dieser Körper – leben bzw. funktionieren will. Dementsprechend soll jeder Teil der Stadt, das Wohngebiet, das Industriegebiet, das Entspannungsgebiet und das Verkehrssystem gut funktionieren und gesund sein, falls dieser Körper, die Stadt, leben und blühen will. Umgekehrt können die besonderen Teile nicht zum Blühen kommen und lebensfähig bleiben, falls dieser Körper nicht ausgeglichen funktioniert.“[42] Selbst der von Behne als führender Anti-Organiker apostrophierte Le Corbusier führte in La Charte d’Athènes aus: „Das Werk (der Planung) wird eine wirklich biologische Schöpfung sein, die klar definierte, organische Bestandteile umfaßt, die imstande sind, ihre wesentlichen Funktionen zu erfüllen.“[43] 

Als Arthur Korn am 2. Tag der Berliner außerordentlichen CIAM-Tagung im Sommer 1931 gegen Ende der Debatte um die Richtlinien des 4. Kongresses einwarf, dass die dreißig vorgesehenen Stadtanalysen kaum imstande sein würden, zu Schussfolgerungen über die Zukunftsentwicklung der Städte zu führen, und dass sie insgesamt ein zwar detailliertes aber doch letzten Endes langweiliges Bild abgeben würden, stellte er im Grunde genommen das neben der Funktion wichtigste Standbein der Programmatik von CIAM 4, die komparative Methode und deren heuristischen Wert in Frage. Merkwürdig, dass dies keinem der Teilnehmer auffiel und dass folglich niemand sich genötigt sah, die Idee des „vergleichenden Städtebaus“ gegenüber diesem Angriff zu verteidigen. Darüber, dass die vergleichende Methode Herzstück der ganzen Unternehmung war, kann kein Zweifel bestehen. Von Anfang an war der Kongress so angelegt. Der „Vergleichende Städtebau“ sollte dann auch prominent im Titel der im Anschluss an den Kongress für eine breite Leserschaft zu erfolgenden Publikation seiner Resultate figurieren, wie aus einem Prospektentwurf hervorgeht, den der CIAM-Generalsekretär Sigfried Giedion vermutlich direkt nach dem Kongress verfasste: „Vergleichender Städtebau“ lautete die Überschrift; darüber war mit blauem Bleistift und in Majuskeln handschriftlich ergänzt: „Buchhändler-Prospekt – ‚Die funktionelle Stadt‘“. So paradox es auch klingen mag, ist dieser Prospekttext die ausführlichste in den Archivmaterialien existierende verbale Erläuterung der Absichten, die CIAM 4 mit dem „vergleichenden Städtebau“ verband:

„Der Organismus und die Lebensbedingungen der heutigen Städte kennenzulernen liegt nicht mehr allein im Interessengebiet des Spezialisten für Städtebau.

Schon aus Gründen der Übersicht und der Vergleichsmöglichkeit bestand seit langem das Bedürfnis, ausser der Organisierung der eigenen Stadt und ihres Einzugsgebietes auch die ähnlich strukturierten Städte in anderen Ländern kennenzulernen.

Dieser Überblick über die Gesamtentwicklung ist allmählich ein Bedürfnis jedes Architekten und jeder Behörde geworden, die sich ernsthaft mit städtebaulichen Problemen abgibt. Begründet liegt dieses Verlangen in der universalen Auffassung, die der heutigen Architekturentwicklung eigen ist.

Bis jetzt lagen aber nur schwache Ansatzpunkte für einen derartigen Überblick vor. Wenn überhaupt, so konnte nur durch persönliches Einzelstudium Einblick in die Funktionen und Lebensbedingungen der verschiedenen Städte gewonnen werden.

Für dieses Gebiet, für das wir als ganzes den Namen

‚VERGLEICHENDER STÄDTEBAU‘

vorschlagen möchten, braucht es zuallererst eine Analyse bestehender Städte nach einheitlicher Methode (gleicher Massstab, Anwendung gleicher Zeichen und gleicher Farben für gleiche Funktionen).

Auf diese Weise besteht für Städtebauer, Architekten, Behörden, ja für den interessierten Laien die Möglichkeit, bestimmte Auskünfte über die Lebensbedingungen der heutigen Städte zu erhalten, die wirklich vergleichsfähige Pläne aufschlussreicher und tiefgreifender zu geben vermögen als noch so vollständig ausgearbeitete Statistiken und Publikationen.“[44]

Mit dem „Vergleichenden Städtebau“ setzte der CIAM 4 eine Marschroute fort, die die Organisation bereits in ihren beiden vorangegangenen Kongressen eingeschlagen hatte, in dem zweiten Frankfurter Kongress von 1929 über die „Wohnung für das Existenzminimum“ und im dritten Brüsseler von 1930 über „Rationelle Bebauungsweisen“. Im ersten Fall bildeten im gleichen Maßstab und in gleicher Graphik dargestellte 105 Wohnungsgrundrisse von Ein-, Zwei- und Mehrfamilienhäusern die Grundlage des Diskurses, im zweiten Einheitspläne von 56 Beispielen des Siedlungsbaus. In den Ausstellungen, die die Kongresse begleiteten, wurde dieses Material in parataktischer Ordnung zur Schau dargeboten.[45]

Der 4. Kongress hätte sich aber außer auf die eigene Vorgeschichte durchaus auch auf eine lange komparatistische architekturtheoretische Tradition berufen können. Graphische Form erhielt sie zuerst mit Sebastiano Serlios Darstellung der fünf antiken Säulenordnungen auf einem einzigen Blatt im IV. Buch seines Architekturtraktats zum Thema Regole generali di architettura sopra le cinque maniere degli edifici (1537), die von Vignola in seiner Regola (1562) wiederaufgegriffen wurde und in der „Säulenbuch“-Literatur bis ins 19. Jahrhundert fortgesetzt wurde. Eines der letzten Beispiele der Gattung war sicher Charles Normands Nouveau parallèle des ordres d’architecture des Grecs, des Romains et des auteurs modernes (Paris 1852), in dem der Autor die Säulenordnungen sowohl einem synchronischen als auch einem diachronischen Vergleich unterzog. Die Gattung der « Parallèle » wiederum wurde, noch bevor  sie  mit Charles Perrault in die moderne Literaturtheorie Einzug erhielt (1688),[46] von Roland Fréart de Chambray mit seiner Parallèle de l’architecture antique et de la moderne (Paris 1650) in den architektonischen Diskurs eingeführt und fand ihren Höhepunkt mit Jean Nicolas Louis Durands 150 Jahre später erschienenem Recueil et parallèle des édifices de tous genre anciens et modernes, in dem jedoch nicht mehr wie in der früheren Literatur die Säulenordnung sondern die Gebäudegattung im Mittelpunkt der Betrachtung stand. Die auf den 90 Tafeln des Buches aufgeführten historischen und aktuellen Beispiele waren selbstverständlich in einheitlichem Maßstab gezeichnet. Durand verfolgte dabei einen zugegebenermaßen recht bescheidenen Anspruch. Denn wie er im Vorwort seines Buches notierte, wollte er mit dieser Publikation dem interessierten und dem auf einschlägige Informationen angewiesenen Leser den Rückgriff auf dreihundert unterschiedliche Bücher (zumeist Foliobände) ersparen und in einem Buch alle wichtigen Gebäude aller Länder und aller Zeiten zusammentragen.[47] Knapp ein Jahrhundert später, im Jahre 1896, setzte Banister Fletscher den Begriff „komparative Methode“ als Untertitel seines (aktuell in der 20. Auflage stehenden) A History of Architecture ein. Um die geographischen, sozialen und historischen Einflüsse auf die Architektur zur Geltung zu bringen, notierte der Autor im Vorwort der ersten Auflage des Buches,  wie auch „the qualities of the styles themselves, a comparative and analytical method has been adopted, so that by the contrast of qualities the differences may be more easily grasped.“[48] Über diese Tradition wurde von den CIAM-Architekten hinweggesehen und dazu gibt es eine einfache Erklärung: Zu sehr waren die historischen Anwendungsbeispiele der Vergleichsmethode auf formale Ausprägungen der Architektur bezogen, um  mit einer Architekturauffassung, die die Frage der Funktion verabsolutierte und sie von anderen architektonischen Interessen abkoppelte, kompatibel zu sein. Was dabei freilich mit verloren ging, war der Erkenntnisertrag, den man womöglich in methodologischer Hinsicht aus dieser langen Erfahrung hätte ziehen können. Der Drang, den man offensichtlich verspürte, das Rad der Architektur und des Städtebaus von Grund auf neu zu erfinden, war so stark, dass selbst Erfahrungen jüngeren Datums aus dem Bereich des Städtebaus ignoriert wurden. Dabei waren weder die Internationalisierung des Städtebaudiskurses noch die Stadtkomparatistik eine CIAM-Erfindung. Angefangen mit der Internationalen Stadtplanungskonferenz des RIBA in London im Jahre 1910 und mit vielleicht markantestem Beispiel den Ersten Internationalen Stadtplanungskongress in Gent 1913,[49] war der Städtebau bereits vor dem Ersten Weltkrieg dabei, ein disziplinspezifisches Esperanto zu erlernen und die nationalen Erkenntnisse in einen internationalen Vergleich zu stellen.[50]

„Die gesamte Sozialforschung“, stellt Immanuel Wallerstein aphoristisch fest, „arbeitet notwendigerweise explizit oder implizit mit Vergleichen zwischen Fällen, die Variablen der einen oder anderen Art enthalten. Daher ist die gesamte Sozialforschung per definitionem komparativ, womit das Adjektiv komparativ redundant wird.“[51] Diese Universalität der Methode[52] brachte bereits Auguste Comte zum Ausdruck, als er in seinem Cours de philosophie positive schrieb, dass die Vergleichsmethode „das wichtigste wissenschaftliche Hilfsmittel der Soziologie“ sei oder Émile Durkheim, der in seinen Règles die Vergleichende Methode als die „einzige, welche der Soziologie entspricht“, bezeichnete. Für den besonderen Fall der vergleichenden Stadttheorie notiert Jan Nijam, dass dessen Ziel es sei, „zu Erkenntnis, Verständnis und allgemeinen Schlussfolgerungen auf einer Ebene zu gelangen, auf der beurteilt werden kann, was für alle Städte beziehungsweise was für eine Stadt zu einem gegebenen Zeitpunkt gilt“[53]. Seine Formulierung ließe sich problemlos auf die Situation in den 1930er Jahren übertragen. Die CIAM-Komparatistik setzte sich jedoch nicht nur von den einschlägigen Traditionen der Disziplin ab. Als methodischer Ansatz, der ähnlich wie der CIAM-Funktionsbegriff Produkt des „sociological turn“ der CIAM-Perspektive war, erfuhr sie von den Vertretern des Leitdiskurses von CIAM 4 eine Auslegung sui generis, die sich auch von der vergleichenden Analytik, die von benachbarten Disziplinen praktiziert wurde, spürbar unterschied. An zwei wichtigen Punkten ist dieser Unterschied festzumachen, der insgesamt als eine Verengung der Handlungsspielräume der vergleichenden Methode gewertet werden kann. Man entschied sich, erstens, für einen synchronischen Vergleich und ließ dabei die Potenzialitäten einer diachronischen vergleichenden Analyse außer Acht.[54] Vom vergleichenden Ansatz würde man des Weiteren erwarten, die Analysen der einzelnen Städte im Spiegel der Analysen aller Städte zu betrachten, um daraus ermitteln zu können, welche Aspekte der Teilanalysen einer partikularen und welche einer universalen Ordnung gehörten. Die CIAM waren aber, zweitens, nur an jenen Aspekten interessiert, die eine vermeintlich allgemeine Geltung besaßen. Den Direktiven für die Ausstellung „Die funktionelle Stadt“, die am 3.-9. August 1933 in Begleitung des öffentlichen Teils des Kongresses in Athen stattfinden sollte, wurde zwar ein Register der untersuchten Städte angehängt, das die Ordnung der Ausstellung angab, auf dem die 34 Beispiele in sieben Kategorien gegliedert erschienen. Diese Kategorisierung hatte aber keine weiteren Folgen auf den Diskurs.[55]  Im Gegenteil: in der Debatte über die Auswertung der Fragebögen, die am 4. August an die Delegierten verteilt worden waren und in ihrer beantworteten Form als Grundlage für die Resolutionen des Kongresses dienen sollten, entschied sich die dafür eingesetzte Kommission dazu, die spezifischen Details der Einzelfälle auszulassen und stattdessen den Nachdruck auf die „allgemeinen Krankheiten“ der 30 Städte zu legen.[56] Das führte dann im Schlussdokument des Kongresses zu lapidaren Formulierungen wie: „Um einen wirklichen Einblick in die Organisation der heutigen Städte und ihre allgemein bekannten Missstände zu gewinnen, wurde die Untersuchung auf möglichst breiter Basis geführt.“[57] (Es fragt sich in der Tat, weswegen  man sich der Mühe unterzogen hatte, wenn doch die urbanen Kachexien  von Anfang an bekannt  waren.) Die Verkürzung der komparatistischen Perspektive durch ein derartiges Verfahren war aber nicht das Hauptproblem des Kongresses. Weit wichtiger wiegt die Tatsache, dass es in dessen Verlauf zu einem wirklich vergleichenden Diskurs gar nicht erst gekommen ist. Nicht nur weil eine Vorstellung darüber fehlte, wie man diese Aufgabe praktisch zu bewerkstelligen hätte, sondern vor allem weil man sich mit den Zielsetzungen des Kongresses, wie mancher Delegierter auch tatsächlich monierte, eindeutig übernommen hatte. Die Städtepräsentationen waren eine auf drei Tage verteilte Aneinanderreihung von Vorträgen auf Grundlage des sie jeweils begleitenden Kartenmaterials. Für eine umfassende Analyse und noch mehr für eine tiefgreifende vergleichende Untersuchung der vorgestellten Fälle war die Zeit objektiv viel zu knapp. Außerdem fehlte es an einem Instrumentarium, welches erlauben würde, etwaige Einsichten aus der Diskussion in einen beschlusstauglichen Zustand überzuführen. Man griff natürlich auf das „bewährte“ Mittel des Fragebogens zurück, den man in Athen verteilt hatte. Gegliedert war dieser nach den „vier Funktionen“ und die Delegierten sollten in knapper Form darauf eingehen, einerseits im Sinne einer Diagnostik der Missstände bestehender Städte andererseits im Sinne von Forderungen zu ihrer Verbesserung. Als dies geschah, stand ein Drittel der Vorträge noch aus, und das blieb so, selbst als die für die Resolutionen zuständige Kommission ihre Arbeit an der Formulierung der Beschlüsse in Angriff nahm, die dann später unter der bescheideneren Bezeichnung „Feststellungen“ erschienen. Durch diesen Vorgang war aber der so genannte „analytische“ Teil des Kongresses vom „synthetischen“ Teil endgültig separiert. Von einem „vergleichenden Städtebau“ ist nicht sonderlich viel übriggeblieben. Das, gemessen an den anfänglichen Zielsetzungen, wichtigste Resultat war die Sammlung der Stadtpläne von gut dreißig Städten mit den entsprechenden Berichten, sozusagen eine Art Encyclopædia Civica, wie sie Patrick Geddes knapp dreißig Jahre früher gefordert hatte.[58]             

Von dieser Bemerkung unberührt bleibt die nachhaltige Wirkung der „Charta“ und der nahezu mythische Schleier, der den 4. Kongress umhüllt.


[1] „Delegiertenversammlung des Internationalen Kongresses für neues Bauen am 25. September 1930 im Palmengarten zu Frankfurt a/M.“ CIAM-Archiv, gta/ETH Zürich.

[2] Protokoll der ersten Plenarsitzung (5. Juni 1931) der Außerordentlichen Tagung der intern. Kongresse für neues Bauen, 5. Juni 1931, S. 16 (Im weiteren Verlauf des Textes erscheinen Verweise auf die außerordentliche Berliner Tagung in folgenden Abkürzungen: Berlin I, Seitenzahl des Protokolls für die erste Plenarsitzung am 5. Juni 1931bzw. Berlin II, Seitenzahl des Protokolls für die zweite Plenarsitzung am 6. Juni 1931. Die beiden Protokolle befinden sich im CIAM-Archiv des gta-Instituts der ETH Zürich).

[3] Die „‘Was ist das?‘-Frage“.

[4] Platon, Menon 80d, nach: Martens, Ekkehard, Die Sache des Sokrates, Stuttgart 1992, S. 67.

[5] Die Erklärung von La Sarraz (1928), in: Steinmann, Martin (Hrsg.), CIAM. Dokumente 1928-1939, Basel und Stuttgart 1979, S. 28f.

[6] Die Richtlinien für den 4. Kongress, in Steinmann, S.115.

[7] „Stadtbau kann niemals durch ästhetische Überlegungen bestimmt werden, sondern ausschliesslich durch funktionelle Forderungen“, hieß es in der Erklärung von La Sarraz (Steinmann, 28). Im „Bericht über die Kommissionssitzung zur Vorbereitung des 4. Internationalen Kongresses, Moskau 1932“ (Zürich, 15. Februar 1931, CIAM-Archiv gta/ETH Zürich) wurde zu den Richtlinien des 4. Kongresses festgehalten:“… man soll nicht von der stadt-form ausgehen, sondern von der funktion, von den lebensbedürfnissen arbeit, erholung verkehr.“  (S. 4). Die Vorstellung vom „verzweigten Komplex“ äußerte van Eesteren in seiner Stellungnahme in Berlin (Berlin I,  S. 16).

[8] Van Eesteren, Berlin I, S.19. Van Eesteren bezog seine Ausführungen über Stadtneugründungen ausdrücklich auf Russland und Australien. Der in den Richtlinien geforderte analytisch-kritische Teil der Untersuchungen war selbstverständlich an eben solchen Fällen nicht anwendbar. Höchstens die allgemeinen Erkenntnisse aus den Analysen bestehender Städte könnten auch für sie von Relevanz sein. Die holländische Gruppe schlug die Trennung dieser beiden Kategorien – bestehende und neu zu gründende Städte – und der einschlägigen Fragen vor, denn „sie sollen aufeinander wirken, aber nicht durcheinander gebracht werden.“ Wie das zu erfolgen hätte, blieb unklar. Dies hatte aber letzten Endes keine weiteren Konsequenzen, denn nachdem der Entschluss gefasst wurde, den 4. Kongress nicht in Moskau abzuhalten, und daraufhin die sowjetische Komponente des Kongresses insgesamt wegfiel, wurde die Problematik der Stadtneugründungen obsolet. Auch wurde auf dem Kongress kein australisches Beispiel vorgestellt.    

[9] In Berlin war freilich selbst van Eesteren der Auffassung, dass der 4. Kongress, der nach der damaligen Planung im darauffolgenden Jahr in Moskau stattfinden sollte, tatsächlich nur einen Teil der Problematik der modernen Stadt würde behandeln können. So schlug er etwa als Referatsthemen für Moskau allesamt Gegenstände vor, die mit dem „Wohnen“ befasst sein sollten. „Das ist nur ein Teil der funktionellen Stadt“, fügte er hinzu.“Die Frage der funktionellen Stadt als ganzes, also mehr allgemein gefaßt, kann dann wieder auf einem nächsten Kongress bearbeitet werden.“ (Berlin I, S. 25f.) Korn kritisierte aber eine Ausschnitthaftigkeit ganz anderer Art.

[10] Berlin I, S. 27-31.

[11] Berlin II, S. 26.

[12] Berlin I, S. 34.

[13] Nesis, Berlin II, S. 28.

[14] Korn, Berlin II, S. 26 und Entgegnung von van Eesteren.

[15] Syrkus, Berlin II, S. 7f.

[16] Gropius, Berlin I, S. 54.

[17] Mendelsohn, Berlin I, S. 58.

[18] „Die Stadt ist der architektonische Ausdruck einer politischen Herrschaft und einer sozialen Ordnung und Schichtung, die besteht, oder von der man wünscht, daß sie bestehen soll.“ Berlin II, S. 2

[19] Lehr, Berlin II, S. 3.

[20] Åhrén, Berlin II, S. 5.

[21] Syrkus, Berlin II, S. 6.

[22] May, Berlin II, S. 16-17.

[23] Mies, Berlin I, S. 49.

[24] Mies van der Rohe, Ludwig, Die neue Zeit, Rede gehalten auf der Wiener Tagung des Deutschen Werkbundes, 22.-26. Juni 1930, in: Neumeyer, Fritz, Mies van der Rohe – Das Kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. Berlin 1986, S. 372.

[25] Nesis, Berlin I. S. 35.

[26] Åhrén, Berlin II, S. 5.

[27] Verwilghen, Berlin I, S. 32 und II, S.13.

[28] May, Berlin II, S. 18.

[29] Als offizielles Thema des Kongresses stand „Die funktionelle Stadt“ seit der Zürcher Kommissionssitzung vom 15. Februar 1931 fest, wobei „die zürcher kommission (…) vor allem darauf aufmerksam (machte), dass das Thema ‚funktionelle Stadt‘ voraussichtlich über verschiedene kongresse ausgedehnt werden müsse“.  Siehe Bericht, S. 3.

[30] Delegiertenversammlung des Internationalen Kongresses für neues Bauen am 25. September 1930 im Palmengarten zu Frankfurt a/M. Protokoll, S. 21-22. An der Versammlung nahmen Karl Moser, Giedion, Aalto, Bourgeois, Forbat, Ginsburger, Gropius, Häring, May, Neutra, Rietveldt, Schmidt, Stam, Steiger, Sundbärg und Syrkus teil. Der Begriff „konstruktive Stadt“ tauchte in der Berliner außerordentlichen Tagung von 1931 in einem Redebeitrag von Alvar Aalto wieder auf – eher beiläufig und wohl als eine Art Lapsus memoriae.

[31] Zuletzt: Forty, Adrian, Words and Buildings. A Vocabulary of Modern Architecture, London 2000.  Zum selben Thema siehe auch: Collins, Peter, Changing Ideals in Modern Architecture 1750-1950, London 1965, Seiten 149-182.

[32] So schrieb beispielsweise 1957 Edward de Zurko ein Buch über die Ursprünge funktionalistischer Architekturtheorie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in dessen größtem Teil er sich mit einer Periode befasste, in der der Begriff „Funktion“ im Architekturdiskurs noch gar nicht im Umlauf war. De Zurko, Edward Robert, Origins of Functionalist Theory, New York 1957.

[33] “The literature of functionalism before the twentieth century”, schreibt Larry LeRoy Ligo, “generally dealt with the relationship between function and beauty in form; beginning in the twentieth century, aesthetic criteria have been abandoned and functionalist writing tends to deal rather with value or worth of buildings than with beauty per se, or with function as an end in its own right rather than as a means to an end..”. Ligo, Lary L, The Concept of Function in Twentieth-Century Architectural Criticism, An Arbor / Michigan, 1984 (1974), S. 8.

[34] „An Stelle einer formalen Auffassung von Baukunst trat eine funktionale. Zweckbauten – das war früher eine bestimmte, inhaltlich determinierte Gruppe von Gebäuden, eine Verbindungsgruppe zwischen den freien architektonischen Schöpfungen der Baukünstler und den nackten Nutzbauten der Ingenieure und Techniker. Jetzt ist jeder Bau ein Zweckbau – d. h. er wird von seiner Bestimmung, von seiner Funktion aus angegriffen.“ Behne, Adolf, Der moderne Zweckbau, München 1926, S. 11.

[35] Ganz zu schweigen davon, dass der Funktionsbegriff selbst in der Soziologie nicht nur eine bewegte Karriere hatte, sondern auch eine schwankende Definition erfuhr: „But it has become notorious that ‚functionalism‘ is understood in a variety of ways by different authors, both sympathetic and critical“, notiert Anthony Giddens (Functionalism: Après la lutte, in: Social Research, Vol. 43 (1976), H. 2, Seiten 325-366, hier: 328).  

[36] „Die Unterlagen sollen so elementar und einfach wie möglich sein, wie es bei den Karten versucht ist, die ich hier habe aushängen lassen“, sagte van Eesteren in seiner Einführungsrede in Berlin, bevor er dazu überging, die Stadtpläne von Amsterdam, die die holländische Gruppe vorbereitet hatte und als Beispiel für die von allen CIAM-Gruppen zu leistende Arbeit dienen sollten, zu erläutern. Berlin I, S. 19.

[37] Hierfür wurden die Auffassungen Émile Durkheims zugrunde gelegt, der den Funktionalismus in der Soziologie richtungsgebend eingeleitet hat. Vgl.: Steinbeck, Brigitte, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs in der positiven Soziologie und in der kritischen Theorie der Gesellschaft, in: Soziale Welt, 15 (1964), H. 2, Seiten 97-129, hier 100-102.

[38] Es ist bezeichnend, dass für den Verkehr, also die „Funktion“, die (wie bereits 1928 festgelegt) die drei anderen „Funktionen“ verband, eine separate Karte vorgesehen war. So wurde auf eine Sichtbarmachung der Wechselwirkungen zwischen Bewegungsabläufen und Stadtbereichen verzichtet. Insgesamt waren drei Karten obligatorisch: Eine für die „Funktionen“ des Wohnens, des Arbeitens und der Erholung im Maßstab 1:10000, eine für den Verkehr im Maßstab 1:10000 und einer dritten im Maßstab 1:50000, die die Stadt mit ihrem geographischen Umfeld zum Thema hatte, in dem alles zusammengetragen wurde.

[39] Deleuze, Gilles, Foucault, Minneapolis und London 1988, S. 34.

[40] Annales Techniques, BIV (1933), H. 44, 45, 46, S. 1169-1179.

[41] Sorokin, Pitirim, Contemporary Sociological Theories. New York 1928. Darin: Kapitel IV, Biological Interpretation of Social Phenomena: Bio-Organismic School, S. 195-218. „Angewandt auf menschliche Gesellschaften stützt sich das Konzept der Funktion auf eine Analogie zwischen sozialem und organischem Leben“, schrieb A. R. Radcliffe-Brown im Jahr 1935 (On the Concept of Function in Social Science, in: American Anthropologist, 37 [1935], H 3.1, S. 394-402, hier: 394). Zu einer umfassenden Kritik der organischen Analogie wie des Funktionalismus in der Soziologie im Allgemeinen siehe: Giddens, wie Anm. 35.

[42] van Eeesteren, C., Ter Inleiding, in: De 8 en Opbouw, De Functioneele Stad, No 10/11, 25. Mai 1935, 105ff.

[43] Schon am zweiten Tag des Kongresses, am 30. Juli 1933, bezeichnete Le Corbusier die vorgestellten Pläne als eine „Biologie der Welt“ (Mumford, Eric, The CIAM Discourse on Urbanism, 1928-1960, Cambridge, Ma. 2000. S. 79). Diese „Welt“ bestand freilich aus 34 Städten, von denen nur insgesamt 5 außereuropäisch waren. Die von Le Corbusier 1943 verfasste La Charte d’Athènes (Le Corbusier, An die Studenten. Die „Charte d’Athènes“, Reinbek b. Hamburg 1962, hier: S. 124) war bekanntlich ein (von den CIAM selbst nicht autorisiertes) Manifest zur „funktionellen Stadt“, das von den Beschlüssen des 4. Kongresses an manchen Stellen abwich. Im öffentlichen Bewusstsein erhielt dieser Text gleichwohl im Hinblick auf den 4. Kongress und auf die städtebaulichen Ideen der klassischen Moderne im Allgemeinen einen kanonischen Stellenwert. Nicht so verhielt es sich mit dem von José Luis Sert verfassten Buch Can Our Cities Survive? An ABC of Urban Problems, Their Analysis, Their Solutions, das mit CIAM-Copyright erschien (Cambridge, Ma. 1942), und von dessen Autor als Popularisierung des Gedankens der „funktionellen Stadt“ gedacht war. Die erste genuine und einzige Kongress-Publikation, die den Bericht über dessen Verlauf, eine Reihe von an den Kongress gerichteten Redebeiträgen und dessen Ergebnisse enthielt, erschien als Sonderheft der Zeitschrift der griechischen Technikerkammer „Technika Chronika“ (Oktober/November 1933) in französischer und griechischer Sprache (s. Anm. 40). Der französische Titel derselben lautete „La ville fonctionelle“, der griechische «Η οργανική πόλις» (= Die organische Stadt). Die beiden Begriffe erschienen irgendwie austauschbar. Dennoch spielte die organische Metapher im theoretischen Horizont der CIAM eine insgesamt beiläufige Rolle. Seit spätestens Bruno Zevis Verso un’architettura organica (Torino 1945) hat sich in der Architekturtheorie und -kritik die Denkgewohnheit etabliert, den Stempel des „Organischen“ exklusiv Architekturen aufzudrücken, die von der strengen Rektangularität abweichen oder elementare geometrische Figuren meiden (zuletzt umfassend: Sabine Brinitzer, Organische Architekturkonzepte zwischen 1900 und 1960 in Deutschland, Frankfurt am Main 2006). Auf die Architektur scheint jedoch zuzutreffen, was Isabel Wünsche für die Kunst der klassischen Moderne allgemein nachweist, dass nämlich kein spezifisches Formvokabular ausschließlich dem Organizismus zuzuordnen sei (Wünsche, Isabel, Organische Modelle in der Kunst der klassischen Moderne, in: Geiger, Annette, Stefanie Hennecke, Christin Kempf [Hrsg.], Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin 2005, S. 97-111). Die landläufige Meinung, nach welcher weiche Formen und Kurvenlinien einer organischen, gerade Linien und rechte Winkel einer rationalen Auffassung entsprächen, sind irreführend und unzutreffend. Die „biological fallacy“ (der zunächst von Geoffrey Scott in seinem The Architecture of Humanism – A Study in the History of Taste [Boston und New York 1914] verwendete Begriff wurde in jüngerer Zeit von Philip Steadman [The Evolution of Designs – Biological analogy in architecture and the applied arts, London und New York 1979, revised edition 2008] erweitert und verfeinert) wirkt über Stilgrenzen hinweg; im Falle der CIAM vorzugsweise dort, wo sich die Grenzen der Architektur und des Städtebaus mit denjenigen der Soziologie berühren.

[44] Typoskript im CIAM-Archiv, gta/ETH Zürich.

[45] Internationale Kongresse für Neues Bauen und Städt. Hochbauamt Frankfurt-M. (Hrsg.), Die Wohnung für das Existenzminimum, Frankfurt am Main 1930 (für die Wohnungsgrundrisse wurde der Maßstab 1:10 gewählt; die letzten sieben Beispiele waren „Sonderlösungen, darunter Hotelwohnungen, eine Schiffskabine, ein Hotelzimmer). Und: Internationale Kongresse für Neues Bauen (Hrsg.), Rationelle Bebauungsweisen, Stuttgart 1931 (die Siedlungspläne waren im Maßstab 1:3000 dargestellt).

[46] Alle „Parallelen“ standen irgendwie im Schatten des großen antiken Vorbildes, Plutarchs Vitae parallelae. Hans Robert Jauß bemerkte dazu: Die literarische Gattung der Parallèle wurde „seit der Renaissance nach dem Vorbild Plutarchs wieder gepflegt und (hat) durch die Querelle ihre höchste Blüte erlangt (…). Sie ist vielmehr ihre unmittelbare historische Anschauungsform und geschichtsphilosophische Voraussetzung.“ Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, par M. Perrault de l’Académie Française. Mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauß und kunstgeschichtlichen Exkursen von M. Imdahl. München 1964. S. 17.

[47] Durand stützte sich auf frühere Autoren. Werner Szambien stellt die Frage, ob nicht J. B. Fischer von Erlach der Urheber einer vergleichenden Geschichte der Architektur sei (Entwurff einer historischen Architectur, 1721), hält zugleich fest, dass die erste publizierte Tafel, auf der ganze Gebäude aller Zeiten im Einheitsmaßstab dargestellt wurden, auf J.-A. Messonnier zurückgeht. Sie erschien in Verbindung mit dem Buch von Gabriel-Martin Dumont, Détails des plus intéressantes parties d’architecture de la basilique de Saint-Pierre, Paris 1763. Eine weitere Episode dieser Geschichte war eine Tafel, die in der zweiten Auflage von Julien-David Leroys berühmtem Les Ruines de plus beaux monuments de la Grèce aufgenommen wurde und auf der Tempel der Ägypter, Hebräer, Phönizier, Römer und Christen im Einheitsmaßstab in Grund- und Aufriss dargestellt waren. Szambien, Werner, Jean-Nicolas-Louis Durand 1760-1834. De l’imitation à la norme, Paris 1984, S. 27-30 und 218-219.  Zu Leroy vgl. auch : Kisacky, Jeanne, History and Science: Julien-David Leroy’s Dualistic Method of Architectural History, in: Journal of the Society of Architectural Historians, 60 (2001), H. 3, S. 260- 289.

[48] Fletcher, Banister, A History of Architecture on the Comparative Method, 5. Aufl., London 1905, S. IX.

[49] Der Titel der einschlägigen Publikation lautete: Premier Congrès international et exposition comparée des villes (Brüssel 1913).

[50] Sutcliffe, Anthony, Towards the Planned City: Germany, Britain, the United States and France, 1780-1914 (Comparative studies in social and economic history 3), Oxford 1981. Besonders: Kapitel 6, Planning as an International Movement, S. 163-201.

[51] Artikel „comparative sociology “ (Immanuel Wallerstein), in: Outhwaite, William (Hrsg.), The Blackwell Dictionary of Modern Social Thought, 2. Aufl., Malden, MA 2006. S. 102f.

[52] Auf diesen Umstand ist vielleicht die Tatsache zurückzuführen, dass „eine breite und gediegene Auseinandersetzung mit den epistemologischen und methodologischen Aspekten des ‚Vergleichens‘ in den Sozialwissenschaften bislang fehlt.“ Matthes, Joachim, The Operation Called „Vergleichen“, in: ders. (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992, S. 75. Eine nützliche Einführung in die Problematik der Komparatistischen Methode ist dennoch: Neil J.Smelsers Comparative Methods in the Social Sciences (Englewood Cliffs, N.J. 1976).

[53] Nijam, Jan, Introduction – Comparative Urbanism, in: Urban Geography, 28 2007), H. 1, S. 1-6, hier:1.

[54] Im Nebeneffekt entwich man damit auch dem Druck vor allem von Seiten der marxistisch orientierten Mitglieder, die im Zuge der Kongressvorbereitungen darauf bestanden hatten (Berlin, 1931), aus der historischen Retrospektive zu Erkenntnissen darüber zu gelangen, weswegen die Stadt so geworden sei, wie man ihr aktuell begegnete. Nachdem aber Moskau als Austragungsort des 4. Kongresses weggefallen war und angesichts der Zerschlagung des Neuen Bauens und speziell seiner marxistischen Komponente durch die Nazis in Deutschland, war dieser Druck im Kongress selbst ohnehin faktisch nicht mehr vorhanden. Auf dem Dampfer Patris II und in Athen waren die Vertreter des CIAM-Leitdiskurses und ihre Freunde sozusagen unter sich. Aus dem CIAM-Horizont verschwand gleichsam die „sozialistische Stadt“, die an der außerordentlichen Berliner Tagung die Geister der Delegierten in nicht unerheblichem Maße aufgewühlt hatte.  

[55] Diese Kategorien waren: Metropolen, Verwaltungs- und Wohnstädte, Hafenstädte, Industriestädte, Erholungsstädte, Städte mit verschiedenen Funktionen, neue Städte (Annales Techniques, S. 1164). Diese Kategorisierung erinnert an die Stadttypologien Max Webers: Städte des Konsums, Städte der Produktion, des Handels, der Industrie, Zentren und abhängige Städte (Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Teil, Kapitel VIII: Die Stadt, § 1: Begriff und Kategorien der Stadt, S. 513-527). Doch bei Weber war die Kategorienbildung Produkt der Analyse der Stadtinstitutionen und hatte mit der Vier-Funktionen-Matrix der CIAM nichts zu tun.

[56] Somer, Kees, The Functional City. The CIAM and Cornelis van Eesteren, 1928-1960, Rotterdam und Den Haag 2007, S. 171. Zum Verlauf der Arbeiten des CIAM 4 vom 29. Juli bis 13.August 1933 siehe auch: Eric Mumford, Seiten 78-85.

[57] Feststellungen des 4.Kongresses „Die Funktionelle Stadt“, Steinmann, S. 160-163.

[58] Geddes, Partick, Civics: as Applied Sociology (Read before the Sociological Society at a Meeting in the School of Economics and Political Science, University of London on Monday, July 18th, 1904), in: ders.: Sociological Papers, London 1905, S. 104-118, hier: 118.

ARCHAISCHE AGILITÄT

Den Architekten erfüllte seine Schöpfung mit Stolz. Von Selbstbewusstsein strotzend ritzte er sogar seinen Namen in den Steinstylobat an der linken Seite der Tempelfront ein. Und als hätte dies nicht gereicht, fügte er ein persönliches Urteil über die eigene Leistung hinzu – dass der Bau Säulen hatte, spielte dabei eine besondere Rolle. Er bezeichnete ihn als „kala erga“, „schöne Werke“.(1) Diese Geste ist in der Architektur der griechischen Archaik einzigartig, der Stolz des Architekten jedoch keineswegs unbegründet. Der dorische Apolltempel in Ortygia (das später Teil von Syrakus werden sollte) war in der Tat der erste Ringhallentempel aus Stein, der in einer griechischen Kolonie des Westens errichtet wurde, und sicherlich auch einer der ersten Tempel dieser Art im griechischen Raum insgesamt. Mit anderen Worten handelte es sich bei ihm um den Ursprung einer Entwicklung, die anderthalb Jahrhunderte später in der klassischen Architektur (nach gängiger Lektüre) ihren Kulminationspunkt erreichte.

„Kleomenes, Sohn des Knidieides, machte dies für Apollo…“

Entdeckt wurde der Tempel im Jahre 1862, aber die Ausgrabung wurde nicht vor 1943 vollendet. Es mutet irgendwie merkwürdig an, doch die Historiographie hat seitdem diesem bemerkenswerten archaischen Bauwerk kaum die seiner historischen Bedeutung gebührende Anerkennung geschenkt. Keine Bekundungen der Bewunderung, sondern zumeist abschätzige Urteile sind die Regel, Tadel allenthalben statt Lob! Dinsmoor z.B. bezeichnet den Tempel als Werk „kultureller Rückständigkeit“ und „provinziellen Geistes“,(2) als ob das griechische Mutterland um dieselbe Zeit, d.h. im frühen 6. Jahrhundert v.u.Z., Beispiele höherer Qualität, Komplexität oder vergleichbarer kultureller Stoßkraft und Tragweite vorzuweisen hätte. Gruben wiederum stellt die „Urtümlichkeit“ des Tempels fest, um gleich darauf auf vermeintliche „Widersprüche“ und „Ungereimtheiten“ hinzuweisen.(3) Selbst Dieter Mertens spricht in seiner ansonsten so hervorragenden Studie über die Architektur der Westgriechen von einem „plumpen Gebilde“.(4) Wie ist ein derartiger Umgang mit dem Bauwerk überhaupt zu verstehen? Die Antwort auf diese Frage hängt offenkundig vom Blickpunkt des Betrachters ab. Geht man an den Tempel von Ortygia unter dem Eindruck und dem Einfluss der ‚reifen‘ griechischen Architektur der klassischen Zeit heran, so treten seine vermeintlichen Schwächen unvermeidlich in den Vordergrund. Der frühe dorische Ringhallentempel von Syrakus entsprach jedenfalls in einer Reihe von Punkten dem vollendeten, in spätarchaischer und klassischer Zeit erreichten dorischen Kanon nicht. Betrachtet man hingegen den Apolltempel im Kontext der Architektur seiner Zeit, so stellt man mühelos fest, dass es sich bei ihm um eine außerordentliche, überaus innovative architektonische Leistung gehandelt hatte.

Südpteron des Tempels von Apollon

Der Tempel steht auf einer vierstufigen Krepis. Der Stylobat weist Maße von 21.57 x 55.3m auf und das Peristyl besteht aus 6 x 17 monolithischen Säulen, die mit jeweils 16 flachen Kanneluren versehen sind. Die Kolonnade verdoppelt sich an der Front, so dass damit die Ostseite des Gebäudes (die gleichsam die Eingangsseite ist) stark akzentuiert wird. Dieses Merkmal, das etwas später auch am zweiten großen dorischen Bau in Syrakus, am Tempel des Olympischen Zeus und kurze Zeit später am Tempel C von Selinunt, am Tempel AII und gewissermaßen auch am Tempel B von Metapont auftaucht, stellt den ersten wichtigen Unterschied zum späteren dorischen System dar. Der Pronaos mit seinen zwei Säulen in antis führt zu einer tiefen und schmalen Cella, die durch zwei Säulenreihen in drei Schiffe gegliedert ist und in einem Adyton endet. Es gibt keinen Opisthodom, und diese Disposition, die übrigens an manch anderem Tempel in Sizilien und Süditalien wiederholt wird, kann durchaus als zweite „Abweichung“ von der späteren dorischen Norm bezeichnet werden. Die Säulen des Peristyls erscheinen kurz und dick, ihre Höhe beträgt fast sieben Meter, ihre Proportion entspricht einem Verhältnis 1:4. Der von ihrer gedrungenen Form entstehende Eindruck wird von ihrer dichten Aufstellung verstärkt: die Säulenabstände der Langseiten sind zuweilen enger als der Säulendurchmesser. Das Peristyl insgesamt verrät sicherlich einen gewissen Mangel an technischer und gestalterischer Versiertheit in der Bearbeitung und im Arrangement freistehender, steinerner, stabförmiger Elemente als vertikale Last tragende Glieder der Konstruktion. Mit dieser Technik hatten die Griechen bis dahin, wenn überhaupt, so doch sehr geringe Erfahrung. Andere Merkmale der äußeren Form des Bauwerks sind nicht weniger auffällig. Das mittlere Interkolumnium der hexastylen Front des Tempels ist breiter als die seitlichen. Am Fries entspricht der Rhythmus, nach dem sich Triglyphen und Metopen abwechseln, nicht dem Rhythmus der Säulenstellung. Die Achsen der Triglyphen stimmen mit denjenigen der Säulen nicht überein. Dieses Merkmal wird an den Langseiten noch extremer, denn hier werden am Fries ein Triglyph und eine Metope schlechterdings weggelassen, so dass das arithmetische Verhältnis zwischen Säule und Triglyph (1:2) nicht mehr verwirklicht werden kann. All das läuft natürlich dem dorischen Code zuwider.     

Der Charakter dieser Eigentümlichkeiten kann erst erkannt werden, wenn das Bauwerk innerhalb seines architektonisch/historischen Umfeldes betrachtet wird, obwohl dies aufgrund der noch unsicheren Datierung des Tempels nicht immer leichtfällt.(5) Denn es steht zwar fest, dass er im frühen 6. Jahrhundert entstand, es kann aber nicht mit Sicherheit gesagt werden, was dem Apolltempel unmittelbar vorangegangen war und was ihm unmittelbar folgte. So sind auch keine Schlussfolgerungen darüber möglich, welche Elemente an diesem Tempel Fortsetzung vorgängiger Beispiele waren und welche als wirkliche Neuerungen einzustufen sind. Der Apollotempel von Syrakus wird oft mit dem wahrscheinlich etwas älteren Artemistempel von Korfu in Verbindung gebracht, der wohl als ältester aus Stein errichteter dorischer Ringhallentempel auf griechischem Boden angesehen werden darf. Die beiden Bauwerke weisen in der Tat gewisse Ähnlichkeiten auf. Ihre Grundrisse haben etwa die gleiche Größenordnung. Die Säulen des korfiotischen Tempels sind ebenfalls gedrungen, obwohl sie sichtlich kürzer als diejenigen des Tempels von Syrakus sind. Ihre Proportion (1:5) macht sie aber deutlich schlanker als jene. Geison und Sima tragen bei beiden polychromen Terrakottaschmuck. Vorhanden ist aber auch eine Reihe von nicht unwesentlichen Unterschieden; der offensichtlichste besteht darin, dass den acht Säulen der Frontansicht des Artemistempels nur sechs des Syrakuser Tempels gegenüberstehen. Eins der markantesten Merkmale des Artemistempels ist die außergewöhnliche Breite des Pteron, die große Distanz zwischen Kolonnade und Cella.(6) Dieses Element taucht auch in Altsizilien auf (Selinunt, Tempel GT) auf, nicht aber am Apolltempel von Syrakus.   

Korfu (oben), Ortygia (unten)

Die Tempel von Korfu und Syrakus verbindet nicht allein die zeitliche Nähe, sondern auch die politische. Die Städte, in denen sie standen, waren Kolonien Korinths und beide wurden im selben Jahr 734 v. u. Z. gegründet. Die Frage, ob es über die politischen Fäden hinaus auch architektonische Verbindungslinien zwischen den Neugründungen und der gemeinsamen Mutterstadt gibt, wäre also gerechtfertigt. Eine architektonische Vorgängerrolle Korinths hinsichtlich der beiden Tempel lässt sich allerdings kaum belegen. Der erste, im frühen 7. Jahrhundert errichtete Apolltempel in Korinth und andere Bauwerke innerhalb der Stadt oder um Korinth herum, v.a. der Poseidontempel in Isthmia (ca. 650),(7) können aufgrund des zu ihrer Errichtung (neben Holz) verwendeten Steinmaterials als die ersten Beispiele einer genuinen Monumentalarchitektur in Griechenland angesehen werden. Trotz gegenteiliger Behauptungen bedeutet dies aber keineswegs, dass diese Bauwerke gleichsam Erstformulierungen des dorischen Systems gewesen waren, das dann von den Kolonien übernommen wurde. Der archäologische Bestand in Korinth und Isthmia scheint es auszuschließen. Da ist aber noch der sehr wahrscheinlich um 630-620 v. u. Z. entstandene Bau C (Apolltempel) in Thermos/Ätolien, der gewissermaßen dem Einflussbereich Korinths zugerechnet werden könnte, da er vermutlich von korinthischen Bauleuten errichtet wurde. Es wird allgemein angenommen, dass dieser Tempel über eine Peristasis verfügte. Sowohl die hölzernen Säulen als auch das hölzerne Gebälk sind uns nicht erhalten geblieben. Jeder Versuch, auch in diesem Fall eine Vorgängerfunktion hinsichtlich Korfu und Syrakus zu postulieren, stößt allein schon aus praktischen Gründen auf unüberwindliche Schwierigkeiten, denn abgesehen vom mutmaßlichen Steinfundament der Säulen bestehen die einzig erhaltenen Elemente des archaischen Tempels aus Dachziegeln, Antefixen, Teilen der Sima und zehn polychromen Terrakottaplatten, die vielleicht, aber doch nicht sicher zur Dekoration der Gebälkstruktur über den Säulen dienten. Bei Rekonstruktionen des Gebälks werden diese Platten in der Regel als Metopen gedeutet. Ob diese Vermutung jedoch stichhaltig ist, ist eine andere Frage. (8)

Angesichts dieser Sachlage wäre es vielleicht sinnvoller, die Hypothese einer korinthischen Vorgängerrolle aufzugeben, und die These Mertens’ zu akzeptieren, nach der wir es im Falle des Tempels von Ortygia/Syrakus mit einer „Erstlösung“ zu tun haben.

Andererseits wäre aber auch unangebracht, die Rolle Korinths auf die eines einfachen (und dazu noch höchst unsicheren) Lieferanten architektonischer Lösungen zu verkürzen. In archaischer Zeit war Korinth ein wichtiges politisches Zentrum, das zudem als eine Art den Westen mit dem Osten verbindender Knotenpunkt fungierte. Seine beiden Häfen, Lechaion am Korinthischen und Kenchreai am Saronischen Golf und der Diolkos, die unter dem Tyrannen Periander gebaute gepflasterte Straße, auf der Schiffe entlang des Isthmus transportiert werden konnten, bringen die Rolle Korinths als Transferzentrum zwischen den Meeren bis zur ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts nahezu symbolisch zum Ausdruck. Die Ausbreitung Korinthischer Keramik, die einen geographischen Raum umspannte, der sich vom Schwarzen Meer bis zum nordafrikanischen Naukratis und von der kleinasiatischen Küste und dem syrischen Al Mina bis zur Iberischen Halbinsel ausstreckte, ist ein weiteres Indiz der korinthischen Agilität. (9) Nahe liegend ist die Annahme, dass dieser Geist archaischer Weltgewandtheit von der Mutterpolis auf die korinthischen Kolonien übergriff. Genau unter diesem Gesichtspunkt verdienen gewisse Elemente des ortygischen Apolltempels besondere Aufmerksamkeit.

Bei dessen Beschreibung führt Dinsmoor gewisse „Abweichungen“ von der ‚reifen‘ dorischen Ordnung auf Einflüsse von bzw. Anleihen aus dem „ionischen System“ zurück. Die Doppelkolonnade der Ostpartie des Bauwerks verrät nach Dinsmoor – wenn auch in einem bescheideneren Maßstab – etwas vom Geist der grandiosen ionischen Dipteroi der östlichen Ägäis und der kleinasiatischen Küste. Sogar die Abwesenheit eines Opisthodoms und die Weitung des mittleren Interkolumniums der Frontansicht hält er für ionische Einflüsse. Man könnte dieser Bestandsaufnahme mühelos zwei weitere Elemente hinzufügen: Die Streckung des Tempels im Sinne der Ost-West-Achse und die fehlende Korrespondenz zwischen den Rhythmen des Frieses und der Kolonnade. Wenn letzteres Element nicht als eine handwerklich etwas ungehobelte Übertragung einer vermeintlichen protodorischen Holzkonstruktion auf die Steinbauweise gedeutet wird, kann sie durchaus als strukturelle Diskontinuität zwischen Kolonnade und Fries beschrieben werden, womit die ionische Beeinflussung hier erneut bestätigt wäre. Dinsmoor erläutert, dass beim Apolltempel das Samische Heraion womöglich als „direkte Inspirationsquelle“ gedient haben könnte und meint wohl damit den Tempel von Rhoikos und Theodoros, die erste vollständige Verwirklichung der ionischen Monumentalarchitektur. Doch auch hier fällt die Bestätigung einer unmittelbaren Verbindung schwer, denn es ist kaum möglich zu sagen, welcher dieser etwa zeitgleich entstandenen beiden Tempel dem andern tatsächlich vorangegangen war. Die Sache wird noch schwieriger, wenn man die kritischen Unterschiede zwischen den beiden Strukturen in Betracht zieht, wobei diejenige des Maßstabs die auffälligste ist – der Heraion-Grundriss besitzt die doppelte Größe desjenigen des Tempels von Syrakus. Hinzu kommen Unterschiede der Proportion, der Typologie der Grundrisse usw. Die These, Syrakus hätte Samos nachgeahmt, ist also etwas zu gewagt. Wenn man jedoch das chronologische Argument beiseiteschiebt, würde die Fülle der ionisierenden Elemente des Tempels von Syrakus durchaus erlauben, einen Geist interaktiven Handelns über geographische Grenzen hinweg anzunehmen, der in beiden Landschaften, in Sizilien und in der Ostägäis wirksam war. Und derselbe Geist ist auch im Artemision von Korfu vorzufinden, das genauso wie das Heraion von Samos oktastyl war und dessen Pteron eine Weiträumigkeit besaß, die den Tempel in die Nähe des ionischen Dipteros brachte.         

Diese Beobachtungen reichen aus, um ein etwas differenzierteres Licht auf die Geographie der griechischen Architektur zu werfen. Νach konventioneller Lesart, die auf Vitruv zurückgeht, sind die dorische und ionische Ordnung als zwei geographisch distinkte architektonische Beiträge zu verstehen. Dabei wird die dorische Ordnung im griechischen Mutterland verortet, während Kleinasien und die ägäischen Inseln als Nährboden der ionischen gelten. Der Apolltempel in Ortygia zwingt aber zur Revision dieser Geographie, da sich in ihm die zwei Hauptvarianten griechischer Tempelarchitektur zu überlappen und zu verschmelzen scheinen und das ist sicherlich nicht auf eine (post-moderne) Operation der Doppelkodierung zurückzuführen.

In der Entstehungszeit der ersten Peripteraltempel aus Stein hatten die Griechen die Erfahrung der großen Kolonisationswelle des 8. Jahrhunderts hinter sich und ebenso hatten sie ihre Phobien vis-à-vis der Welt jenseits der griechischen Westküste längst überwunden. Dasselbe galt mutatis mutandis im Falle der Kolonien, deren unmittelbar umgebende Welt, das Mittelmeer, deutlich kleiner war als diejenige, die Homer in der Odyssee beschrieben hatte. Sie muss im Bewusstsein der Griechen eher jenes Ausmaß besessen haben, das ihr zwei Jahrhunderte später Sokrates zuwies: (10)

Dann (habe ich) auch (angenommen), dass sie (die Erde) sehr groß sei und dass wir, die vom Phasis bis an die Säulen des Herakles reichen, nur an einem sehr kleinen Teile, wie Ameisen oder Frösche um einen Sumpf, so wir um das Meer herum wohnen, viele andere aber anderwärts an vielen solchen Orten.

Anmerkungen

1 Die (textlich restaurierte) Inschrift ließe sich folgendermaßen übersetzen: „Kleomenes, Sohn des Knidieides, machte dies für Apollo und fügte ihm Säulen an. Es sind schöne Werke.“ Die Identität und die Zuständigkeit des Kleomenes wird nicht offengelegt. War er Tyrann von Syrakus, der die Errichtung des Tempels anordnete, war er Geldgeber des Bauwerks, dessen Aufseher oder dessen Architekt? Der Verweis auf die Säulen macht die letzte Variante wahrscheinlicher. Vgl.: R. Ross Holloway. The Archaeology of Ancient Sicily. London & New York: Routledge, 2000 (1991), S.73.

2 William Bell Dinsmoor, The Architecture of Ancient Greece – An Account of its Historic Development. London & Sydney: B. T. Batsford, 1950 (1902), S.73-78.

3 Gottfried Gruben, Griechische Tempel und Heiligtümer. München: Hirmer, 2001 (1966), S. 286-290.

4 Dieter Mertens, Städte und Bauten der Westgriechen – Von der Kolonisationszeit bis zur Krise um 400 vor Christus. München: Hirmer, 2006, S.104f.

5 Dieter Mertens, Die Entstehung des Säulentempels in Sizilien, in: Ernst-Ludwig Schwandner (Hg.). Säule und Gebälk – Zu Struktur und Wandlungsprozess griechisch-römischer Architektur. Mainz: Philip von Zabern, 1996, S .25-38.

6 Der Artemistempel – Architektur, Dachterrakotten, Inschriften. Bearbeitet von Hans Schleif, Konstantinos A. Rhomaios, Günther Klaffenbach. Berlin: Gebr. Mann, 1940. Die vorhandenen Fundamente lassen keine Rückschlüsse darüber zu, ob der Tempel über einen Opisthodom verfügte (vgl.: S. 19).

7 Robin F. Rhodes, Early Corinthian Architecture and the Origin of the Doric Order, in: AJA 91 (1987), S. 477-480. Die umstrittene ‘dorische’ Rekonstruktion des isthmischen Poseidontempels geht auf Oscar Broneer zurück: Oscar Broneer. Isthmia. Vol. I – Temple of Poseidon, Princeton, N.J., 1971.

8 Für eine Rekonstruktion der mutmaßlichen Holzkonstruktion des Thermos-Tempels siehe z.B.: Immo Beyer, Der Triglyphenfries von Thermos C – Ein Konstruktionsvorschlag, AA 87 (1972), S. 197-236.

9 Vgl.: J. B. Salmon. Wealthy Corinth – A History of the City to 338 BC. Oxford: Clarendon Press, 1984.

10 Platon, Phaidon (Friedrich Schleiermacher).

Fotos: SG, Grundrisse: SG/Gujber

MASKEN, ALLTÄGLICH UND EXTRAORDINÄR

AHA: die Abkürzung steht bekanntlich für die drei Corona-Gebote, (1) Abstand, (2) Hygiene, (3) Alltagsmaske. Bei (1) und (2) ist die Assoziation zwischen Abbreviatur und Wort recht einfach, beim Buchstaben (3) muss man jedoch zwei- bis dreimal um die Ecke gehen, um – falls dies überhaupt gelingt – auf das damit Abgekürzte zu stoßen. AHA sollte das Memorieren erleichtern, realiter wird aber damit das genaue Gegenteil davon erreicht. Selbst nach des Rätsels Lösung tauchen andere schwerwiegende semantische Probleme auf: wieso denn Alltagsmaske? Muss (oder darf) sie etwa bei Sonn- oder Feiertagen, in den Ferien oder zu außerordentlichen Anlässen nicht mehr getragen werden.? Alles in allem, von den drei Geboten ist das dritte das deutungsschwierigste. Das zeigt sich nicht so sehr in der Maskenpflichtverweigerung, in der Nasendemaskierungspraxis und in der Unterkinnmaskierungspraxis, denen man sich der Bequemlichkeit halber leichtsinnig hingibt, sondern hat tiefere Ursachen.    

Maske, sagen die Lexika, ist ein aus dem Arabischen übernommenes Wort – „maskharat“ –, das einen speziell zur Bedeckung des Gesichts oder eines Teils davon hergestellten Gegenstand bezeichnet, der dazu dient, dessen Gestalt so zu verändern, dass es nicht mehr erkennbar ist. Die Griechen verwendeten dafür das Wort προσωπείον (prosōpeion), seltener προσωπίς (prosōpis), beides Ableitungen aus πρόσωπον (prosōpon), einem Wort, das sich als  Gesicht, Angesicht oder Antlitz übersetzen lässt, seit Homer aber, d.h. seit dem 8. Jh. v. Chr. auch die Person bezeichnet. Πρόσωπον wäre demnach die Person, die man ist; προσωπείον, Maske oder Larve, entspräche der Rolle, die jemand spielt, die Person, die sie oder er im Privaten, aber v.a. in der Öffentlichkeit präsentiert oder darstellt. Die Maske ist also stets eingebunden in performative Akte. Pindar, der lyrische antike Dichter, der an der Wende vom 6. zum 5. Jh. v. Chr. lebte, verwendete das Wort προσωπείον (prosōpeion), Maske oder Larve, zudem, um den äußeren Glanz, die Pracht, den Schimmer, die Würde und den Anstand zu bezeichnen, sofern diese Eigenschaften ins Auge fielen. Masken wurden zunächst auf religiösen Festen verwendet. So sind etwa rituelle Tänze zu Ehren von Göttern und Göttinnen überliefert, deren Beteiligte Masken trugen. Dann kam das Theater, das tragische wie das komische, wo man der jeweiligen Gattung entsprechend maskiert auftrat. Vilem Flusser erinnert uns an römische Theatermasken, die wie Lautsprecher gebaut waren, durch die das Sprechen in den Raum tönte und daher persona hießen (abgeleitet von personare = hindurchtönen). 

Seit der Antike hat das Wort – oder vielmehr der Gegenstand – eine beachtliche Karriere hinterlegt. Heute gibt es über die überlieferten Verwendungsweisen hinaus Sauerstoffmasken, Tauchermasken, Schutzmasken aller Art, kosmetische Masken, chirurgische Masken bis zu Automasken, Schiffsmasken und viele andere mehr; nicht zu vergessen die metaphorische Verwendung: „sie versteckte ihre Angst hinter einer Maske von Gleichgültigkeit…“  oder „er versteckte sich hinter einer Maske von Regungslosigkeit“ – eine bei Pokerspielern typische Eigenschaft.

Ein besonders prominenter Anlass der Maskierung ist der Karneval, einer Maskierung, die oft begleitet wird von der Kostümierung des gesamten Körpers. In diesem Fall ist nicht nur die einzelne Person, sondern die ganze Festgemeinschaft betroffen. Was für merkwürdige Dinge als Folge der Maskierung/Kostümierung in einem solchen Rahmen passieren, hat niemand besser beschrieben als der russische Literaturwissenschaftler und Philosoph, Michail Bachtin: „Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe“, schrieb Bachtin, „ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer. Im Karneval sind alle Teilnehmer aktiv, ist jedermann handelnde Person. Dem Karneval wird nicht zugeschaut, streng genommen wird er aber auch nicht vorgespielt. Der Karneval wird gelebt – nach besonderen Gesetzen und solange diese Gesetze in Kraft bleiben. Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt. Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt. Das betrifft vor allem die hierarchische Ordnung und alle aus ihr erwachsenden Formen der Furcht, Ehrfurcht, Pietät und Etikette, das heißt: alles was durch die sozialhierarchische und jede andere Ungleichheit der Menschen, einschließlich der altersmäßigen, geprägt wird“ (1965). Eine geradezu emanzipatorische Funktion wird hier dem Karneval zugesprochen, die modellhaft eine andere Welt und ein anderes, freies, von menschlicher Nähe und Freundschaft gekennzeichnetes Leben verwirklicht. Ohne Maskierung wäre dieses Leben kaum denkbar gewesen.

Der größte Karnevalsenthusiast und Maskenanbeter auf dem Gebiet der Architektur war der deutsche Architekt des 19. Jahrhunderts Gottfried Semper.  „[… ] das Bekleiden und Maskieren [ist] so alt wie die menschliche Civilisation“, schrieb er in seinem Buch Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (1860, 1863), „und die Freude an beidem [ist] mit der Freude an demjenigen Thun, was die Menschen zu Bildnern, Malern, Architekten, Dichtern, Musikern, Dramatikern, kurz zu Künstlern machte, identisch. Jedes Kunstschaffen einerseits, jeder Kunstgenuss andererseits, setzt eine gewisse Faschingslaune voraus, um mich modern auszudrücken, – der Karnevalskerzendunst ist die wahre Atmosphäre der Kunst“ (Der Stil, I/231). Interessant ist hier, dass Semper das Bekleiden und das Maskieren in einem Atemzug nennt – in architektonischen Begriffen bedeutet dies, dass die Gebäudehülle nicht allein die Funktion der Raumabschließung – der Scheidung von innen und außen – zu  erfüllen hat , sondern überdies die genauso wichtige Aufgabe, das  individuelle Bauwerk, die Architekturperson in der Öffentlichkeit vorzustellen, um mit Pindar zu sprechen, die Pracht, die Würde und den Anstand des Gegenstands sichtbar zu machen. Das hat die Architektur immer so gemacht, sie hat Masken benutzt, um Ideen auszudrücken, die über die materielle und formale Organisation eines Gebäudes hinausgingen, sie hat Masken benutzt um ihre tektonische Struktur nach außen hin sichtbar zu machen oder eine solche nur vorzutäuschen, sie hat Masken benutzt, um  die spezifische Aufgabe, den Zweck, dem das Bauwerk jeweils zu dienen hatte, sichtbar zu machen, vorzustellen usw. Sie hat mit ihren Masken veranschaulicht, erklärt, getäuscht, verführt und das tut sie im Großen und Ganzen immer noch. Mit anderen Worten, die Architektur hat mittels ihrer multiplen Masken stets ihre Zuständigkeit in der Öffentlichkeit, im öffentlichen Raum bekräftigt.  

Wie stellen sich aber die Dinge hinsichtlich der Masken heutzutage dar?

Will man eine aktuelle Maskendiagnostik durchführen, so ist man gut beraten, eine besondere Kategorie der Maskennutzung unter die Lupe zu nehmen.  Es ist kein Geheimnis, dass für das Handeln von Individuen, deren Lebensweg vom durch die jeweilige Konvention festgelegten rechten Pfad der Tugend abwich, Masken stets ein wichtiges operatives Utensil waren. Auch heute ist das so geblieben. Dabei erfährt man, dass moderne Einbrecher, Räuber, Diebe, Kidnapper, Brandstifter, Plünderer beiderlei Geschlechts eine besondere Vorliebe für maßgefertigte Masken haben. Dies hat funktionelle Vorteile – die Maske sitzt besser –, ist aber auch verknüpft mit dem gesamtkulturellen Trend der Mass Customization.  Die Technik zur Herstellung solcher Masken, die bislang auf Gipsbasis standen, und Totenmasken sehr ähnelten, war zwar nicht besonders kompliziert, aber doch recht umständlich, da vor allem während der ganzen Prozedur, die immerhin mehrere Minuten dauerte, das Gesicht reglos bleiben musste (bis der Gipsbrei mit dem es beschmiert war, trocknete). Heute hat sich die Maskenherstellungstechnik enorm verbessert. Mit dem Einsatz elektronischer Technologie kann man das Gesicht innerhalb kürzester Zeit – 0,2 Sekunden – mit größter Präzision – 300.000 Einzelmesspunkte – scannen.  Mit der Hilfe von 3D Modeling Software bekommt man daraus eine dreidimensionale mathematische  Darstellung des Gesichts, die man dann mit einem 3D Printer als dreidimensionales physisches Objekt  je nachdem als Positiv- oder Negativform erzeugen kann. Die Vorteile gegenüber dem konventionellen Verfahren liegen in der Schnelligkeit der Aufnahme, die einen praktisch unbewegten Zustand des Gesichts erlaubt und in der Vermeidung des physischen Kontakts mit der Gesichtsoberfläche und damit aller dadurch verursachter Probleme. Außerdem ist dieses Verfahren weit komfortabler für den/die Kund*in. Nun, das sind zunächst die guten Nachrichten für unsere Delinquenten. Problematisch, sehr problematisch sogar wird die Sache, wenn die Verfolgungsinstanz in den Besitz der Maske gerät oder des Template des Gesichts, das sehr wahrscheinlich als Datei im Computer des/der Maskenbildner*in gespeichert ist. Mit der geeigneten Software lässt sich nämlich dieses Template mit tausenden Gesichtsbildern, die sich in den behördlichen Datenbanken befinden, in Sekundenschnelle vergleichen. Es reicht auch nur, wenn die Behörden über einige biometrische Daten der betreffenden Person verfügen, um deren Identität mit großer Präzision festzustellen. Und das tun sie unter dem Kontrollregime, auf dem heutige Macht aufbaut, potenziell bei jedem Sterblichen.  Wenn überdies die Behörde in den Besitz der Maske selbst gelangt und sich darauf Spuren organischer Substanz finden, kann sie durch DNA-Analyse die Identifizierung der Person doppelt bestätigen – zwei positive Matches statt eines. Mit anderen Worten: die Maske hat sich aus einem Instrument des Verbergens, des Versteckens, der Unkenntlichmachung der Identität des/der Maskenträger*in in ein Instrument der vollkommenen Transparenz, d.h. in ihr absolutes Gegenteil verwandelt. Dafür sind viele Faktoren verantwortlich: der umfangreiche Einsatz entwickelter elektronischer Technologien, die Fortschritte biogenetischer Forschung, der kulturelle Trend der Mass Costumization, ein Staat der primär auf Kontrolle statt auf Disziplin setzt und seine Behörden apparativ und personell entsprechend ausstattet.

Theatermasken, Karnevalsmasken und Masken der Delinquenz sind ohne jeden Zweifel extraordinäre Masken. Unterwegs zu den alltäglichen stößt man jedoch auf weitere Masken, deren kategoriale Zuordnung nicht so leichtfällt. Dazu gehört die religiös begründete Vollverschleierung, wie sie bei Burka bzw. Nikab Trägerinnen in Erscheinung tritt. Bei ersterer ist nur ein kleiner Teil des Gesichts um die Augen herum durch ein in den Stoff eingearbeitetes Sichtgitter vage zu erkennen, während bei der zweiten nur die Augen der Person unverhüllt zu sehen sind. Mehrfach erschien für einen großen Teil der Bevölkerung, der öffentlichen Meinung und der Politik diese Bekleidungsform und ganz besonders, die Art und Weise, auf die das Gesicht verdeckt bzw. maskiert wurde trotz der Seltenheit ihres Vorkommens als Skandalon. ‚Bei uns begegnet man sich mit offenem Gesicht‘, war oft zu hören. ‚Bei uns‘: damit war das ‚Abendland‘ explizit oder implizit gemeint, dessen Untergang im Falle der Tolerierung dieser vermeintlichen Monstrosität gewittert wurde. Es wurden Verbote des öffentlichen Erscheinens in diesem Outfit angedroht und teilweise auch ausgesprochen. Seit einigen Monaten ist aber der Aufschrei, hinter dem sich oft pure Islamophobie verbarg, ganz plötzlich verstummt: Der Grund dafür ist ganz einfach: Burka und Nikab sind AHA-konform! Das gesamte Abendland (und nicht nur) darf nicht nur, es muss sich (sogar unter Androhung von Strafen bei Nicht-Compliance) maskieren, im Prinzip wie Burka oder Nikab tragende Frauen. Auch das Verbot des Händedrucks als Begrüßungsform zwischen Frauen und Männern in manchen islamischen Kontexten ist übrigens mittlerweile ebenso AHA-konform und daher geboten – Abstand! Und zwar generell – d.h. unabhängig vom jeweiligen Geschlecht der sich Begrüßenden. Ähnlich verhält es sich mit einer anderen Form der Transition von extraordinären zu gewöhnlichen Masken. Ältere werden sich an die leidenschaftlichen Debatten um das Vermummungsverbot Mitte der 1980er Jahre erinnern. Das entsprechende Gesetz, das die Vermummung unter bestimmten Bedingungen als Straftat definierte, konnte nur mit den Stimmen der damaligen Koalition aus Union und Liberalen vom Parlament verabschiedet werden. Die Praxis der (strafbaren) Vermummung war und ist dabei bei einem winzig kleinen Segment des politischen Spektrums beliebt und vorfindbar – man nennt diese Leute ‚die Autonomen‘. Die Frage, inwiefern daraus eine ernsthafte „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ ausgehen könnte, sei hingestellt. Jedenfalls ist heutzutage Autonomie [zumindest was (1) angeht] auch AHA-Konform, ist das Maskierungsgebot heute, in Zeiten der zweiten Corona-Welle, generell, in allen Lebenslagen und Situationen, sobald man die eigenen vier Wände verlassen hat.

Bleibt abzuwarten, was uns die Post-Corona-Zeit hinsichtlich Maskierung bescheren wird, v.a. wie sich moderne Kreuzfahrer und Law-and-Order-Neurotiker verhalten werden. Die Architektur gibt womöglich einen nützlichen Fingerzeig zu einem produktiveren Umgang mit Masken, alltäglichen und extraordinären gleichermaßen.  

UM 1900: GRIECHISCHES, ALLZUGRIECHISCHES – Elitistisch-völkische Interferenzen am Rande Europas

Wie Winckelmann, Goethe, Humboldt, Hölderlin und viele andere Arbeiter des „Traums vom Griechentum“ hatte sich auch Nietzsche davor gescheut, griechischen Boden jemals zu betreten, womöglich aus Angst, jenen blanken Spiegel zu zerbrechen, „der immer etwas widerstrahlt, das nicht im Spiegel selbst ist“. Darin stand Nietzsche voll und ganz in der Tradition deutscher Graecophilie. Und eben deswegen konnte sich auch das bei ihm vom Spiegel Widerstrahlte von demjenigen seiner Vorgänger so stark unterscheiden! Nietzsche datierte das griechische Projekt zurück und rächte sich damit an Sokrates, den angeblichen Verhinderer von dessen Vollendung. Der zweite an den antiken Philosophen begangene Mord zerschlug das Bild griechischer Kontinuität und brüskierte damit die Priester des deutschen Griechenkults. Ebenso erschwerte er das Leben der ganz und gar realen neu-griechischen Nietzscheaner, die zwar den Deutschen einen Griechen nannten, zugleich aber an den Meisterdenker einer fernen Vergangenheit, die sie jedoch als die ihre verstanden, keineswegs verzichten wollten. Nietzscheanismus und Sokratismus Hand in Hand: das war ein explosives Gemisch und es blieb nicht aus, dass es an einem europäischen kulturellen Randschauplatz der Jahrhundertwende seine volle Sprengkraft auch tatsächlich entfaltete. Wege zur Avantgarde eröffneten sich dabei ebenso wie Perspektiven des Völkischen, die in einer fiktiven Rückkehr zu den Wurzeln anonymer Volkskultur das Heil aus vermeintlicher aktueller Verlebtheit und Verderbnis suchten.

***

Die Debatte um das Nietzschesche Gedankengut findet in Griechenland nicht auf philosophischem Terrain statt, sondern auf literarisch-philologischem. Was ferner den Bezug auf die Person des Philosophen selbst angeht, ist man in den seltensten Fällen explizit; man zieht eher das andeutende Halbdunkel vor. Die Gründe dafür können auf zwei Ebenen vermutet werden: In einem jungen, aus einer Fremdherrschaft hervorgegangenen Land, das bald feststellen musste, ethnisch zu sehr durchmischt und geographisch (gerade bis zu den südlichen Hängen des Olymp reichend) viel zu klein zu sein, gibt das Streben nach nationaler Integration und das Verlangen nach nationaler Identität im Politischen wie im Kulturellen den Ton an. So stellt sich die Lage der Dinge auch um die Jahrhundertwende dar, kurz nach der Niederlage im damals jüngsten griechisch-türkischen Krieg (1897). Ein Hauptschauplatz der Suche nach nationaler Identität ist zweifellos die Sprache. In der Kontinuität der Sprache von der Antike bis zur Gegenwart ist sie zu begründen, so denkt man, und so werden Philologie und damit einhergehend Literatur zu unangefochtenen kulturellen Leitmedien. Der Streit um die Sprache – die Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der antikisierenden bereinigten Sprache („bereinigt“ von den während der Osmanenherrschaft erfolgten Beimischungen) und den Streitern um die gesprochene demotische Sprache (die Volkssprache mithin) – befindet sich gerade in dieser Zeit auf seinem Höhepunkt. Alle intellektuellen Kontroversen (die Regel kennt kaum Ausnahmen) werden durch den sprachlichen Filter gezogen, so auch die philosophischen.

Der Grund des vermummten Erscheinens Nietzsches im griechischen Diskurs mag an der Art und Weise liegen, auf welche Nietzsche selbst die griechische Antike behandelt, und welche ja bereits auf die Ablehnung der Altertumswissenschaft im eigenen Land direkt nach Veröffentlichung des Tragödienbuchs gestoßen war. In Griechenland macht sie gleichsam eine offene und vorbehaltlose Identifizierung mit dem Philosophen problematisch. Das Bild etwa eines dem griechischen Geist „fremden“ Sokrates, das Nietzsche in die Welt setzt, das Bild des antiken Philosophen als „Vorläufer einer ganz anders gearteten Kultur“ als der griechischen, begleitet von den Geschmacklosigkeiten, die sich Nietzsche vor allem in der Götzendämmerung gegen den Athener erlaubt (die sich selbst auf dessen physisches Erscheinungsbild ausdehnen), alles das ist den Neugriechen schlichtweg nicht geheuer. Für Moderne und Ahnenverehrer gleichermaßen ist Sokrates aus der griechischen Tradition, als deren Erben (wenn auch auf verschiedene Weise) sich beide verstehen, nicht wegzudenken. Dionysos und Sokrates sind nicht Antipoden, das Dionysische und das Sokratische kein „neue(r) Gegensatz“, wie in der Geburt der Tragödie zu lesen ist, sondern nur unterschiedliche Aspekte einer ansonsten einheitlichen Kultur.

Auf weite Strecken deliriös, aber auch witzig, bisweilen selbstironisch, aber dafür umso eindrucksvoller beschwört der Essayist und Dichter Perikles Yannopoulos (1869-1910) kurz nach der Jahrhundertwende (wohl mit direktem, wenn auch nicht zugegebenem Bezug auf Nietzsche) diese für Neugriechen lebenswichtige Einheit. Die condition grecque nimmt dann diese Züge an: „Überall herrscht Licht, überall der Tag, überall Behaglichkeit, überall Kargheit, Bequemlichkeit, Weite, überall Ordnung, Symmetrie, Eurhythmie, überall die Wohlgestalt, die Gewandtheit des Odysseus, die Geschmeidigkeit des Jünglings, überall Milde, Anmut, Heiterkeit, überall das Spiel griechischer Weisheit,  überall Frohsinn, sokratische Ironie. Überall Philanthropie, Sympathie, Liebe, überall Verlangen, Lust zum Singen, zum Küssen, überall Begehren nach dem Stoff, nach dem Stoff, nach dem Stoff, überall dionysische Wonne, Sehnsucht nach Trunkenheit, Durst nach Schönheit, Sich Wiegen in Seligkeit. Überall das Vorbeiziehen des stürmischen Windes, des Windes Wucht, des Windes Streitbarkeit und Kraft, und überall das Vorbeiziehen des Windes der melancholischen Schönen, der trauernden Schönen, des Wehklagens im Angesicht des sterbenden Adonis. Und überall der Wind strahlenden Sturmes, der die Glieder bindet und zugleich der Wind der Flöte, der die Glieder mit Lüsternheit entfesselt. Und überall das Vorbeiziehen des Windes mit dem Jammergeschrei der Aphrodite vermischt mit starker satirischer Säure.“

Eine Reihe von Literaten, die geistige Affinitäten zum Denken Nietzsches empfinden, scharen sich um die Literaturzeitschrift Τέχνη (Die Kunst), die sich als Reaktion auf den allgemeinen Werteverfall der Zeit versteht und es auch tatsächlich mit ihrer Frische und Angriffslust vermag, die Geister gründlich aufzuwühlen. Im Editorial des ersten Heftes (November 1898) wendet sich der Verfasser gegen eine allenthalben kursierende vulgäre Literaturauffassung, gegen jene Schreiberlinge mithin, die sich nur an die träge Menge wenden, und sie zufriedenzustellen, als ihr einziges Ziel ansehen. Unerheblich sei jedoch, was dem Publikum gefalle. Was ihm zu gefallen habe, zu publizieren, setze sich die Zeitschrift selbst zur Aufgabe. Hinter dem Einführungstext der konsequent in der demotischen Sprache gehaltenen Zeitschrift vermutet man zwei Literaten von Format: Kostas Hatjopoulos (1868-1920), Lyriker, Prosaist, Kritiker, Essayist und Übersetzer (der sich allerdings später von Nietzsche und den Nietzscheanern abwendet und sich mit der politischen Linken verbündet) und Kostis Palamas (1859-1943), späterer Übervater der neugriechischen Dichtkunst und Nietzscheaner der ersten Stunde.

In den Strudel einer pathetisch geführten Querelle um die Kunst gerät die Zeitschrift bereits im Februar 1899 anlässlich der Aufführung von Henrik Ibsens Hedda Gabler in Athen mit Eleonora Duse in der Hauptrolle. Es ist vor allem die von Gregorios Xenopoulos für die Zeitschrift verfasste Kritik der Aufführung, die so etwas wie einen literarischen Skandal auslöst. Er schreibt: „Anfangs hatten wir befürchtet, dass die große Kunst der Duse dieses Meisterwerk der jüngeren dramatischen Kunst selbst vulgären Menschen verständlich machen könnte. Aber nein! Keine Interpretation – weder die eines Kritikers noch die eines Schauspielers – besitzt die Kraft, ein Drama Ibsens herabzuwürdigen. Mehr noch: so wie die Duse sie in ihrer Tiefe begriffen und gespielt hat – ohne Geschrei, ohne Aufgeregtheit und ohne Gaukelei – ist die Person Hedda Gablers – gerade durch die große Einfachheit – noch unzugänglicher geworden. Und die Zeitungskritiker gaben am nächsten Tage zu, dass sie rein gar nichts verstanden haben. Ibsen und Duse haben triumphiert. Die Kunst eines Autors oder Schauspielers, die der Deutung derer offensteht, die die Auffassung des gemeinen Pöbels vertreten, ist keine Kunst!“  Dass solche Äußerungen den Vorwurf des „Aristokratischen“ und „Elitären“ sich gefallen lassen müssen, liegt auf der Hand. Es verwundert auch nicht, dass die Mitarbeiter der Zeitschrift schlicht als Spalter des Volkes bezeichnet werden. Sie seien allerdings „weniger eitel als ihre Vorgänger (die alten Aristokraten)“, hieß es zudem, „aber dafür egoistischer; das einzige was sie wollen, ist zu verhindern, von jedermann verstanden zu werden.“ (Karkawitsas)

Die selbst im Lager der Anhänger der demotischen Sprache als revolutionär eingestufte Zeitschrift wird dermaßen angefeindet, dass sie ein Jahr nach ihrer Gründung ihr Erscheinen einstellen muss. Eine Nachfolgepublikation gibt es dennoch. Unter dem Titel Διόνυσος (Dionysos) erscheint sie und wird vom Bruder des Kostas Hadjopoulos, Dimitris (1872-1936), der mit dem Pseudonym Bohème unterschreibt, und Yannis Kambysis (1872-1901) herausgegeben. Zwischen 1901 und 1902 bringt es die Zeitschrift zu zehn Heften. Ein Jahr nach ihrem Erscheinen stirbt Kambysis neunundzwanzig-jährig an Tuberkulose.

Statt eines anderen Entrées warten die beiden Herausgeber mit einem Auszug aus Nietzsches Also sprach Zarathustra auf: „‚Warum so hart!‘ – sprach zum Diamanten einst die Küchenkohle; ‚sind wir nicht Nah-Verwandte?‘… Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: werdet hart!“ Es folgt Goethes Prometh mit einer Einführung von Kambysis, der das Drama in eine ‚korrekte‘ Nietzscheanische Perspektive setzt. Neunmal insgesamt bringt die Zeitschrift Auszüge aus Nietzsches Texten in griechischer Übersetzung, darunter aus Nietzsche contra Wagner, aus der Fröhlichen Wissenschaft, aus Morgenröte, aus dem Tragödienbuch. Skandinavische Autoren sind der Herausgeber Lieblinge. Henrik Ibsen, August Strindberg, Knut Hamsun paradieren in den Seiten des Dionysos mit Auszügen aus ihren Werken, Ibsen sogar mit einem ganzen Theaterstück (Wenn wir Toten erwachen, 1899). Aber auch Stefan George und Hugo von Hofmannsthal fehlen nicht. Hinzu kommt etwas England, etwas Frankreich und etwas Russland, so dass Dionysos über seine Funktion als Sprachrohr des Nietzscheanismus hinaus, ein Fenster zur Literatur – des wohlgemerkt vorzugsweise (wenn auch im weitesten Sinn) in der Nähe Nietzscheanischen Gedankenguts stehenden – europäischen Nordens ist. Dass die griechische Literatur dabei etwas zu kurz kommt, versteht sich von selbst.

Über Die Kunst und Dionysos hinaus, die sich explizit als Transmissionsriemen des Denkens Friedrich Nietzsches in Griechenland verstehen, wirkt das Denken des Philosophen, wie gesagt, eher verdeckt, aber nicht weniger nachhaltig. Vom besagten Kostis Palamas, über Nikos Kazantzakis bis zu Aggelos Sikelianos ist das Echo Zarathustras unüberhörbar. Eine Besonderheit weist der Fall Kazantzakis auf, der sich 1908 mit einer Arbeit über Nietzsche habilitiert, 1912 Die Geburt der Tragödie und 1913 Also sprach Zarathustra ins Griechische übersetzt. Nietzsche wirkt aber nicht nur als Futter der Literatur; sein Denken beeinflusst zumeist verborgen, subkutan einen Diskurs mit lebensweltlicher Perspektive, der zuweilen sogar politisch wird und ganz besonders – allerdings über mehrere Zwischenstationen – sich auch auf die bildenden Künste auswirkt.

Dass das Dasein und die Welt nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen seien, ist eine Idee, die im Tragödienbuch bereits erscheint; Nietzsche nimmt sie – den „anzüglichen Satz“, wie er schreibt – auch in der Selbstkritik von 1886 nicht zurück und dies, weil „sie bereits einen Geist verrät, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird.“ Wohl mit Nietzsche im Hintergrund: der Ansatz des hellenozentrischen Utopisten Perikles Yannopoulos lebt gerade von dieser Idee, die der Grieche freilich wörtlich nimmt und sich daran macht, sie unter den realen Bedingungen, der „Optik des Lebens“ sozusagen, zu überprüfen. In den Mittelpunkt der Versuchsanordnung, die er dazu einrichtet, setzt er einen fiktiven Betrachter, um den herum sich das Theater der Welt ausbreitet, und wo Natur und Kultur als miteinander gekoppelte Aspekte in Erscheinung treten. Der Ort ist konkret: eine Anhöhe irgendwo mitten in der attischen Landschaft. „Gehen Sie dorthin“, empfiehlt der Autor dem Betrachter, „während der Morgenröte an einem trockenen, wolkenlosen Tag oder am taghellen Mittag oder besser drei Stunden vor Sonnenuntergang, wenn nicht geweihte Augen alles klarer und einfacher lesen können. Bleiben Sie dort zwei, drei, vier, fünf Stunden. Es passiert Ihnen schon nichts, wenn Sie es einmal tun. Es ist so schön, so wollüstig, wenn man auf dem mütterlichen Boden sitzt und die Pflanzen und die schönen Steine streichelt, mit denen man so schnell eins wird. Setzten Sie sich hin, befreit von jedem Gedanken und jedem Zweck, lassen Sie Ihre Seele das angeschaute Spiel frei genießen und ihr Hirn in seiner Dunkelkammer Hügel, Berge, Küsten, Gewässer, Rauch und Farben fotografieren, eben all das, was erscheint.“ Der Betrachter, wohl selbst ein Grieche, wird sich ähnlich verhalten, wie jene Griechen von denen Nietzsche sagte: „Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!“ Der Betrachter Yannopoulos‘ verweilt an der Oberfläche: „Durch Ihr Sehvermögen können Sie alles Sie Umgebende empfinden. Alles, vom Größten bis zum Kleinsten. Alles erscheint. Alles, wie gering sein Ausmaß auch sei, will erscheinen, genauso wie ein spazierengehender Grieche erscheinen will. Und jedes Einzelnen Wille zu erscheinen, ist so stark und jedes Einzelne erscheint denn auch so stark, dass selbst ein schlanker, im Schatten der Ostmauer der Akropolis wachsender Baum, der vor dem Hintergrund der helleren Luft sich wie ein Haar ausnimmt, dem Spaziergänger des Zappeion-Platzes bis zur achten Abendstunde sagen kann: Auch ich erscheine.“

Um den Satz zu verstehen, muss man auf die sprachliche Besonderheit aufmerksam machen. Mit dem Verb erscheinen wird hier das griechische φαίνεσθαι übersetzt, das auch „ans Licht kommen“, „sich zeigen“, „sichtbar werden“ bedeutet. Aus derselben Wurzel bildet sich dann nicht nur das Substantiv φαινόμενον, Phänomen, sondern auch επιφάνεια, das Erscheinung (so die Erscheinung Christi im Neuen Testament), Ruhm und Würde, aber auch und vor allem im neugriechischen Wortgebrauch „Oberfläche“ meint. Yannopoulos‘ Betonung des „Erscheinens“ der Dinge ist Lob der Oberfläche!

Aber damit nicht genug, denn die Oberflächen des Yannopoulos besitzen in der Tat alle Eigenschaften, die Nietzsche mit der Oberfläche verband: Falte, Haut, Farbe usw. und, wenn man will, noch mehr. Zur Präzisierung verwendet der griechische Autor hierbei das Wort „Linie“, meint aber damit weder Linearität noch Linienhaftigkeit. Es geht ihm eher um das Modulieren der Oberfläche und ferner um ihre Textur und Maserung, um das Optische und das Haptische, das Visuelle und das Taktile an ihr. „Es handelt sich deutlich um eine einzige Linie, die sanft aufsteigt und süß absteigt, die große ruhige Wellen bildet und harmonisch aufsteigt und symmetrisch absteigt, die auf ihrem Wege schöne Kurven zeichnet, geschmeidig und mit jugendlicher Spannung zuweilen aufwärts geht, um in hoher Luft einen Kuß zu empfangen, und mit der Leichtigkeit der Seemöwe in ihrem weichen Rhythmus wieder landet.“

Und:

„Seht, seht aufmerksam jeden großen Stein, jede Schwellung, jede Unebenheit der Erde, jede graublau aquarellierte Felszunge; haltet alle Feinheiten auseinander, die Adern, die Abstufungen, die Farbnuancen; an jedem Hügel alle Schnitte, alle Schnitzereien, an jedem entfernten Hügel alle Arabesken der Natur, die sie im Spiel mit dem Stoff gestaltet…“. Die Erdoberfläche ist wie ein fein gewebtes Tuch, wie ein Spinnengewebe, wie der weibliche Oberlippenflaum.

Die Tiefe, die sich unter der Oberfläche öffnet, wird eher als ihr Echo wahrgenommen. Sie bleibt bei Yannopoulos ebenso wie bei Nietzsche nur Andeutung, Anspielung, vager Hinweis, der ziemlich geräuschlos entlang der Parallele befördert wird, die Yannopoulos zwischen Boden und menschlichem Leib herstellt. Wie die Erde, so der Körper lautet das Postulat. Und diese Beziehung steht, wie zu hören war, im Zeichen der Kurve und ferner der libidinösen Schwingungen, die sie auszulösen vermag: „Die Kurvenlinie des Hügels, der weich gewölbte Hals einer Frau: das sind Linien, die Sympathie erzeugen: das Begehren, sie zu streicheln, die Versuchung, sie zu küssen; ob die Linie der Frau oder die des Hügels, beide ziehen die Hand an zu sanfter Liebkosung, sie verlangen nach Liebkosung.“ Das Lob der Kurve gleitet von der Morphologie der attischen Landschaft hinüber zum menschlichen (männlichen wie weiblichen) Körper, der – laut Yannopoulos – nach ihrem Ebenbild gestaltet ist, und landet schließlich in den Erzeugnissen der Kultur: Es handelt sich dabei um eine „sanfte, feine, kraftstrotzende, wollüstige, musikalische und strahlende“ Linie. „Es ist die Linie des Berges, des Jünglings, der Frau, der Säule, der Metope. So wie wir sie in der uns umgebenden Natur und in der Wirklichkeit um uns betrachten, am Gesicht des Berges oder am Antlitz der Frau: überaus einfach und zahm, gütig, voller zarter Lüsternheit, kräftig und nervös in der Bewegung, ohne jemals etwas von ihrer Feinheit und Anmut einzubüßen…“ Am „Leitfaden des Leibes“ festhaltend, ja viel mehr an dessen berauschtem Anschauen und zärtlichem Betasten sich ergötzend, lässt Yannopoulos die Aura des Eros auch dicht über Natur und Kultur herüberziehen und bietet somit beide ebenfalls dem sinnlichen Genuss dar. Entlang einer sanft sich schlängelnden Kurvenlinie werden ästhetische Erscheinung und erotische Empfindung beliebig austauschbar.

Auch Nietzsche hat die gerade Linie negiert. Aber in einer Art und Weise, die ganz plötzlich jede Ähnlichkeit der Einstellung zwischen dem Griechen und dem Deutschen vermissen lässt. Nietzsche verehrte jene „Tantalusse des Willens,… welche sich im Leben und Schaffen eines vornehmen tempo, eines lento unfähig wussten“, und „begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden“ wie sie waren, sich gleichsam als „geborene Feinde der Logik und der geraden Linien“ präsentierten. Nietzsches durstende und hungernde Unterweltler hätten kaum Bewohner der lieblichen, ohne „großen Stil“ auskommenden attischen Landschaft von Yannopoulos mit ihren reizenden Jünglingen und hinreißenden Mägden sein können. Und hier äußert sich sicherlich auch ein Mentalitätsunterschied. Ein Unterschied zu den bewunderungswürdigen Griechen, den Nietzsche sehr wohl spürte, als er in beinahe verzweifelter Resignation konstatieren musste, wie fremd ihm das Griechische doch eigentlich sei, wie unnahbar vor allem die Fähigkeit der Griechen „mit… kleinen Massen… etwas Erhabenes auszusprechen…“. Oder als er voller Sehnsucht den Wunsch äußerte, „den Süden in sich wieder (zu) entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel des Südens über sich auf(zu)spannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder (zu) erobern; …endlich griechischer“ zu werden.

Wie Nietzsche und etliche Denker nach ihm leidet auch Yannopoulos unter der um sich greifenden Modernität und genauso wie jene will er die „Krankheit der Zeit“ mit allen Mitteln bekämpfen. Anders als seine griechischen Vorläufer von Die Kunst und Dionysos sucht er allerdings nicht nach europäischen Verbündeten. Er gibt sich als Vorkämpfer gegen die Xenomanie der Europhilen seines Landes. Dahinter verbergen sich wohl im Wesentlichen xenophobe Motive, während – dazu symmetrisch – sein radikaler Hellenozentrismus oft die Grenzen einer ethnischen Wahnvorstellung berührt. Die Malaise der Zeit bringt Yannopoulos vorab in Verbindung mit der abendländischen Zivilisation; sie sei „barbarisch, künstlich und unfrei“; sie habe „den Menschen ins Unglück gestürzt, indem sie ihm den Zwang zur Arbeit eingeimpft“ habe, sie habe ihn „zum unglücklichsten Tier auf Erden verwandelt, das unter den Bedingungen der erbärmlichsten Knechtschaft Groschenarbeit zu leisten hat, wie ein Sklave, ein Helot, ein Schwarzer.“ Indem das Leben des Europäers künstlich sei, verwandelten sich sein Geist und seine Künste in Wissenschaften, in Maschinen, Waren, Industrieprodukte. In genauso starkem Maße wendet er sich aber auch gegen das Christentum, vor allem gegen das „bestialische Mönchtum“, wie er schreibt. Mit dem Untertanengeist, den das Christentum den Gläubigen einimpfte, habe es die Herrschaft der Osmanen über vierhundert Jahre mit verschuldet.

Der Kampf gegen diese Mächte geht einher mit der Erwartung einer griechischen Renaissance. Und eben hier bekommt das ästhetische Erlebnis ganz plötzlich eine unerwartete Perspektivik; es mutiert zum ideologischen Programm. Die über den menschlichen Leib und die sanfte attische Topographie gezogenen Fluchtlinien werden in der Idee eines neugeborenen Hellenentums zusammengebündelt. Erst jetzt wird einem bewusst, dass Yannopoulos die ganze Zeit nicht über eine beliebige Linie, eine beliebige Oberfläche, eine beliebige Landschaft und einen beliebigen Leib gesprochen hatte, sondern dass dies alles ganz spezifisch und ganz exklusiv gemeint war: Es war griechisch! Alles war in dieser Beschaffenheit und mit diesem Charakter griechisch und nur griechisch! Die zweckfreie Kontemplation mündet mithin unversehens in den nationalen Fiebertraum. Sogar einen extrovertierten und expansiven zugleich, denn um nichts Geringeres geht es ihm als um die vermeintliche Humanisierung der gesamten Menschheit, zu der die gegen Verderbnis und Verlebtheit aufgestandenen Hellenen angeblich prädestiniert seien.

Die Idee einer – nach der antiken und der byzantinischen – dritten griechischen Kultur, von der Yannopoulos hierbei phantasiert und schwärmt, ist nicht eigene Erfindung. Sie entspringt vielmehr einem fest verwurzelten neugriechischen Nationalmythos, dem Konstantinos Paparrigopoulos in seiner fünfbändigen Geschichte der griechischen Nation (1860-74) ein fragwürdiges, aber dafür umso nachhaltigeres historiographisches Denkmal setzte. Das neue Element, das Yannopoulos dem hinzufügt, ist die konkrete Definition des von ihm ins Auge gefassten mutmaßlichen Herrenvolkes. So hält er die urbanen Eliten des zeitgenössischen Hellas allesamt für dekadent und verabscheut sie; vom Hang zur Nachahmung der abendländischen Übel seien sie durchwegs verdorben und für die Aufgabe absolut unfähig. Tauglich zur dritten griechischen Kultur seien somit nur jene Bevölkerungsgruppen, die von der Flut der Verwestlichung weitgehend unversehrt geblieben seien, und in etwa den Nietzscheschen stets nur singenden Urgriechen entsprechen. Die neue hellenische Kultur keime in der Tätigkeit dieser sozusagen bäuerlichen Edelleute und blühe in den genuinen Äußerungen der Volkskultur auf. Nach deren Lehre soll die Erziehung zum höheren Griechentum erfolgen.

Erneut argumentiert Yannopoulos entlang des Leitfadens des Leibes und bezieht Überlegungen über die bildenden Künste in seinen Gedankengang mit ein: „Dieser hellenische Körper bleibt sich auf ewig gleich. Für die Vergangenheit wird dies von den Künsten bezeugt, für die Gegenwart von der Realität. Die Rückseite etwa der Athenastatue des Phidias, die Linien ihres Leibes, die Schnitte ihres Gewandes begegnen uns in großer Ähnlichkeit in der Sonntagskleidung der Bäuerin. Dieses plastische, faltenreiche weibliche Gewand finden wir beim Geschlecht der Megarer und in einer Reihe anderer Geschlechter in ähnlicher Form vor. Unsichtbar, unverständlich und unerklärlich bliebe die Schönheit des marmornen Menschen ohne Fühlung mit dem heutigen physischen Körper, dem Körper des Bauern.“ Und der ethnische Determinismus mündet schließlich in Präskription, in operative Anweisung: „Die besagte Kleidung des Bauern, die so mannigfaltig ist, trägt alle linearen und farblichen Merkmale unserer byzantinischen und unserer antiken Epoche, der antiken zumal. Aus dieser Kleidung muss der zeitgenössische Künstler die Farben und Farbkombinationen ableiten, die unvergleichlich feiner und origineller sind als die deutschen und französischen.“

Der noble Bauer als Erzieher für griechische Kultur und Größe – ein Gedanke, der stark etwa an Julius Langbehns Forderung nach einer Verbauerung der deutschen Kultur erinnert – streckt seinen Kompetenzbereich auch auf die Architektur aus. Kritik und Ausblick halten sich die Waage: Die aktuelle Situation der Architektur in der griechischen Hauptstadt bezeichnet Yannopoulos als Barbarographie und identifiziert sie als eindeutig europäisch. Die Stadt mache den Eindruck eines Zimmers voller Umzugskram. Überall „vorkragende Volumen, schwer und ungehobelt; knochige Linien, eckig, blitzförmig, zerschmettert; Kollision: ein Wirrwarr von Massen; Kollision: ein Wirrwarr von Linien.“ „Es kommt Ihnen dabei vor, als stünde vor Ihnen ein jämmerlicher Millionär mit dickem Bauch, Pelzmantel, Zylinderhut, Westenkette, Stock und hohem Kragen, so wichtigtuerisch, so steif und aufgeblasen, so frech, unangenehm und prahlerisch: Ihr einziger Wunsch wäre, ihn zu ohrfeigen.“ In der modernen Stadt sieht Yannopoulos auch die „helle und aufrichtige Farbenlust“ der Griechen – auch Nietzsche hatte darüber gesprochen – verraten. Die Häuser, sagt Yannopoulos, sehen mittlerweile aus wie Adlerschiss auf samtenem Gewand. Die griechische Natur ist mit ihrer Panchromie wie der lebendige warme Leib einer schönen Frau, wogegen die Häuser der Stadt wie erstarrte, kalte, in ihrem Brautkleid gehüllte Mägde erscheinen. Weiß steht für die europäische Ästhetik, Polychromie für die griechische.

Die Erziehung zum Griechentum enthält schließlich Anweisungen selbst für die Einrichtung des Hauses: Man solle allen Schund wegwerfen, den Europa für die dummen und barbarischen Völker produziert, und an ihre Stelle Erzeugnisse aus der griechischen Provinz, etwa aus Thessalien und der Peloponnes setzen. Selbst und aus einheimischem Holz solle man seine Möbel bauen. So werden sie billiger, fester, bequemer und weit ansprechender in der Farbe. Und als Schmuck reichen ein paar Wildblumen in einem Krug aus korinthischem, duftendem Zypressenholz vollkommen aus.

***

1914, mitten in den Balkankriegen, erscheint die Schrift von Ion Dragoumis (1878-1920), Griechische Kultur. Dragoumis, der vielseitig begabte und überaus charismatische Essayist, Diplomat und politische Visionär setzt das Werk seines Kampfgefährten Perikles Yannopoulos nach dessen Freitod im Jahre 1910 fort. Im 5. Kapitel des schmalen Büchleins erzählt der Autor, der aus seiner Sympathie zu Nietzsche keinen Hehl macht, vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Und ähnlich wie der Verfasser der gleichnamigen Schrift aus dem Jahr 1873 sehnt sich auch Dragoumis nach dem Vergessen-Können: „An einem sonnigen und frischen Septembertag ging ich am Fuße der Akropolis spazieren und dachte, dass die Griechen, vom Vergangenen gereinigt, von jeder Erinnerung an ihre lange Geschichte und jedem Druck durch die moderne fremde Zivilisation befreit, sich dem Leben leicht und frei hingeben sollten, um es nach ihrem Willen zu gestalten.“ Umgekehrt meint er aber auch zu wissen, dass diese Griechen schlecht oder recht außer der kreativen Tat noch einer nationalen Identität bedürften, die bar jeder Erinnerung wohl kaum auskäme. Die Lösung: eine Balance zwischen Tradition und Zukunftsgerichtetheit. Nicht jede Tradition eigne sich aber für die Zukunft, für die kreative Tat. Die Kulturen sind viele, ebenso wie die Wissenschaften, die Künste, die Philosophien, die Wahrheiten, die Lügen je nach Raum und Zeit verschieden sind. So auch die Nationen – heißt es zum Schluss des Arguments. Der scheinbare Pluralismus verwandelt sich also doch letztlich zum Vehikel der Differenz, ja der Exklusivität der hellenischen Nation, die ihre Einzigartigkeit bewahrt, auch wenn sie, soweit es brauchbar ist, Altes und Fremdes integriert. Aber von sich wegstoßen muss sie auch: allen voran den gelehrten Ahnenkult und den Pseudoklassizismus der alexandrinischen Bildung. Die Säfte der Kultur können nur aus dem Baum der völkisch-demotischen Tradition gesogen werden. Absicht ist die Erzeugung einer „neuen Tradition“, die in einen neuen Menschentypus gipfeln soll, der wieder einmal in Nietzscheschen Begriffen gefasst ist. „Die Jungen (werden) dionysisch und apollinisch, die alten olympisch, die Frauen – Geliebte und Mütter und Schwestern – der Männer Stärkung und nicht Schwächung, die  Kinder verrückt und stark und anmutig, Vorprägungen des perfekten Menschen, Hoffnung eines höheren Menschentums.“ Eine neue Aristokratie soll zur „neuen Tradition“ erziehen: das schwebt Dragoumis vor.

Den Künsten fällt dabei eine besondere Rolle zu, vorab der Architektur, der Malerei und der Musik, da in ihnen die demotische Tradition am intensivsten fortlebt und weil gerade diese Künste sich ans ganze Volk wenden, nicht – wie etwa die Literatur – allein an die Gelehrten und Gebildeten. Am ausführlichsten äußert er sich zur Architektur: „Der erleuchtete Architekt durchwandert die griechischen Städte und Dörfer und studiert die byzantinische Architektur an den Kirchen, und Kapellen, an den Schlössern, den Häusern, den Burgen, überall. Nicht sie nachzuahmen ist sein Ziel (das Kopieren ist nicht schwer, aber doch nicht originell), sondern festzustellen, bis wohin es die Griechen der letzten griechischen Kultur in der Architektur gebracht hatten, um genau an der Stelle anzusetzen, wo diese aufgehört hatten, und daraufhin zu versuchen, eine neue griechische Architektur ins Leben zu rufen… Genau von dem Punkt aus wird also jeder Grieche, der die in ihm verborgene Kraft in Bauwerken auszudrücken wünscht, die Architektur fortsetzen. Er wird sich zuerst von den Baumeistern Rat holen, denjenigen, die in den Dörfern den Plan entwerfen und die Häuser bauen. Er soll sie fragen, auf welche Art sie bauen und versuchen, ihre Kunst zu vervollkommnen.“ Hier bezieht sich Dragoumis auf die postbyzantinische Alltagsarchitektur, auf Patrizierhäuser in der Provinz und anonyme Bauernhäuser auf dem Dorfe, die, wie er sagt, Vorahnungen der zukünftigen griechischen Architektur darstellen. Und er fährt fort: „Außer im Norden und in Bergdörfern, wo der Schnee fällt, werden die aus Stein gebauten Häuser Terrassen haben, also flach bedeckt sein, ohne Dächer. Sie werden zahlreiche Fenster haben, die gut schließen, um gegenüber der Kälte abzudichten. Und sie werden Jalousien haben, um im Sommer vor der Sonne zu schützen. Jedes Haus wird einen Hof haben und womöglich einen Gemüsegarten. Geheizt wird im Winter vom Kamin. Zur Häuslichkeit gehören auch Möbel und Geschirr. So hat die Architektur auch einen Bezug zur Möbelkunst, die beispielhafte und ausbaufähige Vorbilder zur Verfügung stellen kann.“

Dragoumis fiel zweiundvierzigjährig 1920 einem politischen Attentat zum Opfer. Zeitlebens schwärmte er von der sogenannten Großen Idee des Griechentums, die in seinen Augen die Konturen einer (friedlichen) Restitution des byzantinischen Reiches annahm.  Kaum zwei Jahre nach seinem Tod erlitten die expansionistischen Pläne Griechenlands in Kleinasien eine deutliche Abfuhr, die griechische Armee eine herbe Niederlage, über eine Million Menschen wurden verjagt. Die „Katastrophe“ verlangte nach Erklärungen; doch bei der Suche nach den Gründen der nationalen Demütigung gelangte immer nachdrücklicher eine einzige Frage in den Mittelpunkt: die nach der griechischen Identität. Intellektuelle scharten sich zusammen in der Bewegung Zurück zu den Wurzeln und gerade in diesem Kontext erbitterter Endoskopie und Omphaloskopie fanden die kulturpolitischen Ideen Dragoumis einen nahrhaften Boden.

Im Jahre 1925 erschien der viel beachtete Aufsatz des Architekten Dimitris Pikionis Unsere Volkskunst und Wir. Er formulierte darin das Programm einer im Wesentlichen modernen Kunst und Architektur. Beide legitimierten sich in der Tradition der anonymen Volkskunst, in der demotischen Tradition. Nur Nietzsche war nunmehr aus dem Horizont verschwunden.

Alle Zitate aus dem Griechischen in eigener Übersetzung.

“Productive theory”

The topic of ‘productive theory’ in research and teaching was up for debate at this year’s ‘architecture theory days’, an event at the Leibniz Universität Hannover from 2 to 4 November. What could this term mean? In which way could this type of theory relate to other kinds of theory?

From 11 to 15 December 1967, a symposium titled Architekturtheorie (‘architectural theory’) took place at the Technische Universität (TU) Berlin on the initiative of O. M. Ungers. It was the first symposium of its kind. During his introduction, Ungers explained his foray into the topic as follows: ‘It is necessary, following a period of extensive construction and, at the same time, at the start of a still greater development, to look into theoretical foundations.’ But despite the high-profile attendance (Friedrich Achleitner, Reyner Banham, Peter Blake, Lucius Burckhardt, Ulrich Conrads, André Corboz, Günther Feurstein, Kenneth Frampton, Sigfried Giedion, Otto Graf, Antonio Hernandez, Jörn Janssen, Jürgen Joedicke, Julius Posener, Colin Rowe, Eduard Sekler, Sam Stevens and Adolf Max Vogt), Ungers’ aspiration to initiate the development of theoretical foundations for architecture was hardly met. At the TU Berlin itself, the subject had huge difficulties establishing itself at first. At the time, ‘architectural theory’ meant the history of architecture following Germany’s late baroque. Still, Julius Posener, who was under a teaching contract at the time, gave a unique and unforgettable lecture series. Elsewhere, things were a little better for architectural theory: In 1967, the gta, Zurich’s Institute for the History and Theory of Architecture, was established. It represented, at least during its foundational years, the idea that history, theory, and design could come together. In the same year, Manfredo Tafuri joined Venice and published his Teorie e storia dell’architettura (‘Theories and History of Architecture’) soon after. The book became one of the most influential writings on the topic for decades to come. In 1968, Jürgen Joedicke, founded the Institut für Grundlagen der Modernen Architektur und Entwerfen (‘Institute for the Foundations of Modern Architecture and Design’) at Stuttgart University, which, under the influence of system theory, cybernetics, and so on, had a clearly theoretical orientation, even if design was an essential element. In 1974, Stanford Anderson made a decisive contribution to the introduction of MIT’s History, Theory, and Criticism programme. In the same year, Royston Landau took over as director of the Architectural Association’s graduate school in London, with the History and Theory programme as the main pillar. This means that, although architects have been theorizing since time immemorial, architectural theory as an academic subject has only been around for the last 50 years.

Yet, in this relatively brief period since its institutional anchoring, theory has undergone such a rapid development and striking proliferation of topics that it has taken on the shape of a monster with a thousand tentacles. Should one wish to map the situation of architectural theory in research and teaching – both regarding its contents and its methods – one would discover a variety of approaches. First, there would be the history of architectural theories from Vitruvius to this day, i.e., that which Hanno Walter Kruft gave us in form of a book in 1985 and established as a teaching tradition. Next, architectural theory would come as an encyclopaedic engagement with contemporary debates – although one might of course argue about which contemporary debates are relevant to theory and which ones are not. Third, a theory heavily informed by philosophy is at least as popular. How that theory turns out depends on respective preferences: Critical theory inspired by the Frankfurt School and its successors, phenomenology, structuralism, deconstruction, post-structuralism, and more recently, speculative realism all have more or less powerful architectural offshoots. Fourth, an architectural theory ‘in an expanded field’, meaning a theory that thinks of itself as part of cultural studies, has been gaining ground since the 1980s, with so many branches that one almost loses sight: feminism, identity theory, post-colonialism, social theory (especially regarding urbanism), psychology, media and communication theory, and much more. Finally, at the turn of the millennium, ‘projective theory’ entered the stage, which committed itself to the idea that theory was only interesting ‘as it was capable of producing design’. The focus thereby clearly shifted from theory itself to its operability in design: ‘A design theorist is interested in being operational’ (Somol). From this abundance of approaches, two clearly distinguishable tendencies emerge. On the one hand, theory is divided into various branches. Distinct fields of expertise are born and become more and more independent. On the other hand, these fields overlap, cross over, and blend into conglomerates with hardly recognisable contours. In any case, it is barely possible to speak of architectural theory in the singular. Rather, it would be more appropriate to speak of different genres or styles of theory.

Given the brimming theoretical treasure trove, manifest in an almost inflationary production of texts, it may seem paradoxical that there is so much talk nowadays about the ‘end’ or even the ‘death of theory’. This, however, also has a tradition, which perhaps goes back to Roland Barthes’ Death of the Author (also from 1967), although the deaths and ends piled up in a worrying way in the 1980s and 1990s and have continued with undiminished momentum until today. Behind the more recent claims was the death of grand narratives, which Jean-François Lyotard announced in his The Postmodern Condition – A Report on Knowledge in apocalyptic fashion in 1979, but soon, more causes of death emerged, relating both to culture in its entirety and architecture specifically. As for the latter, the diagnosis was that theory had served its time because architecture itself fell into the grip of neoliberal market forces. The argument goes as follows: To adorn its rather unwelcoming countenance, investor power is interested only in the production of a certain kind of architectural bijoux fabricated by an elite of practitioners, and is completely indifferent towards architecture as a cultural achievement. This way, it establishes a star system within the discipline, but otherwise strangles its theory. Further, new tools at the architects’ disposal reduce them to headless, i.e., theory-shy software users, coders, BIM managers, thus turning them into digital automatons. As for the academic context, the Bologna Process, the obsession with evaluation and accreditation, clusters of excellence, competition for funding – that is, the ‘managerial revolution’, as Joan Ockman named this phenomenon cumulatively – force theory into a conformist straitjacket that drains it of every last drop of blood. Based on this quick sketch, one can perhaps recognise the reason for the aforementioned paradox – theory’s simultaneous abundance and downfall – in the separation of theory from practice in architecture to an extent hitherto unknown. Theory at best becomes a pastime for beautiful souls, otherwise irrelevant for architecture and therefore dispensable, while architectural practice brings about commodities without cultural value, gratuitously negotiable in the marketplace. All of this of course describes tendencies.

So, what is to be done? Does the ‘productive theory’ chosen as the heading of the Hanover gathering offer a possibility to prevent the slide either into an eschatological necrophilia or into a critically motivated miserabilism? Could it instead offer new perspectives? The first thing to do would be to clarify what is meant by ‘productive’, i.e., which concept of production ‘productive theory’ is based on. One option would be a logical definition of production, marking the transition from a general concept to another general concept or to a particular. For the present case, however, this idea of production does not seem to serve us very well. Another possibility would be a definition of production in terms of economic theory, which would relate to the transformation of production factors such as labour, raw materials, and so on, into consumer goods. Even this concept, however, does not seem to yield much in the present case. The event organisers could have had a different concept in mind, which would indeed bring us close to classical philosophy, namely the Aristotelian concept of production. The ancient philosopher famously divided knowledge into three categories – theoretical, practical, and productive. Theoretical knowledge is knowledge for its own sake. Practical knowledge is about actions aimed at the public and private good. There is finally a third kind of knowledge, often translated as productive. It refers to the production of artefacts. In Book VI of the Nicomachean Ethics, Aristotle uses one sole example for this so-called productive knowledge: ‘οικοδομική τέχνη’, or the art of building (1140a). Building is ‘ποιητική μετά λόγου’, says Aristotle or a poetics with logos or ‘a state of capacity to make, involving a true course of reasoning’ according to another verbose translation. Logos in this particular case is not a matter of reflection, but a way of thought that underlies and is ascribed to making. Poetics, on the other hand, is certainly not limited to the skill and ability of producing useful things, because it does not just refer to the useful arts, but to all art, theatre and rhetoric. I do not wish to open a philosophical or even philological discussion, let alone practise a cult of antiquity. After all, the idea appears in various guises, e.g., in modernity, in Paul Klee’s ‘Bildnerisches Denken’ (imprecisely translated  as ‘The Thinking Eye’ but perhaps better rendered as ‘artistic thinking’) or more recently, in ‘projective theory’, and now in ‘productive theory’, which accordingly demands theory’s immediate proximity to the architectural project, as well as its appropriation of poetic, and therefore imaginative, speculative and projective ways of thinking. At present, teaching and research offer the best terrain for the implementation of these demands.

© Georgiadis, 2017

„Produktive Theorie“

In den diesjährigen Architekturtheorietagen, die am 2.-4. November an der Leibniz Universität Hannover stattfanden, stand die Frage nach einer „Produktiven Theorie“ in Forschung und Lehre zur Debatte. Was könnte mit diesem Terminus gemeint sein und in welcher Beziehung könnte diese Art von Theorie zu anderen Theoriegenres stehen?

Vom 11. bis zum 15. Dezember 1967 wurde auf Initiative von O. M. Ungers an der TU Berlin ein Symposion, das erste seiner Art, unter dem Titel Architekturtheorie ausgetragen. Einleitend begründete Ungers seinen Vorstoß mit der Überlegung, dass, wie er sagte, „nach einer Periode umfangreicher Bautätigkeit und gleichzeitig am Beginn einer Entwicklung noch größeren Umfangs notwendig sei, den Versuch zu unternehmen, nach theoretischen Grundlagen zu forschen.“ Trotz der hochkarätigen Besetzung des Symposions – Friedrich Achleitner, Reyner Banham, Peter Blake, Lucius Burckhardt, Ulrich Conrads, André Corboz, Günther Feurstein, Kenneth Frampton, Sigfried Giedion, Otto Graf, Antonio Hernandez, Jörn Janssen, Jürgen Joedicke, Julius Posener, Colin Rowe, Eduard Sekler, Sam Stevens und Adolf Max Vogt waren dabei – konnte sich der Anspruch von O.M. Ungers, einen Anstoß zur Erarbeitung theoretischer  Grundlagen der Architektur zu geben, nur teilweise erfüllen. An der TU Berlin selbst hatte das Fach zunächst enorme Schwierigkeiten, sich zu etablieren. Als dies geschah, galt als Architekturtheorie die Geschichte der Architektur nach dem deutschen Spätbarock. Dennoch war der Vorlesungskurs von Julius Posener, der damals unter einem Lehrauftrag lief, einmalig und unvergesslich. Anderswo liefen die Dinge etwas besser für die Architekturtheorie: 1967 entstand in Zürich das Institut gta, das (zumindest in den Gründungsjahren) die Idee der Zusammenführung von Geschichte, Theorie und Entwerfen vertrat. Im selben Jahr kam Manfredo Tafuri nach Venedig mit seinem eben erschienenen Teorie e storia dell’architettura, eine der einflussreichsten Schriften zum Thema in den kommenden Jahrzehnten. 1968 gründete Jürgen Joedicke das Institut für Grundlagen der Modernen Architektur und Entwerfen an der Uni Stuttgart, das – unter dem damaligen Einfluss von Systemtheorie, Kybernetik usw. – eine deutlich theoretische Orientierung, gleichwohl mit dem Entwerfen als notwendigen Bestandteil hatte. 1974 trug Stanford Anderson entschieden zur Einführung des History, Theory, and Criticism Program am Massachusetts Institute of Technology und im selben Jahr übernahm Royston Landau die Leitung der Graduate School der Architectural Association in London mit dem History and Theory Programme als seine Hauptstütze. Obwohl Architekt*innen seit je her theoretisieren, ist also die Architekturtheorie als akademisches Fach Angelegenheit des letzten halben Jahrhunderts.

Und dennoch, innerhalb dieses relativ kurzen Zeitraumes seit ihrer institutionellen Verankerung erlebte die Theorie eine rasante Entwicklung, eine frappierende Vervielfältigung ihrer Gegenstände, so dass sie bald die Gestalt eines Monstrums mit tausend Fangarmen annahm. Wollte man das architekturtheoretische Feld kartographieren, wie es sich in Forschung und Lehre inhaltlich und methodisch ausnimmt, so stieße man auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Ansätzen. Da ist zunächst die Geschichte der Architekturtheorien von Vitruv bis heute, also das, was Hanno Walter Kruft 1985 in Buchform gebracht hat und als Tradition auch in der Lehre begründete. Als nächstes käme die Architekturtheorie als enzyklopädische Beschäftigung mit den aktuellen Diskursen, wobei man natürlich darüber streiten kann, was in der Theorie aktuelle Relevanz besitzt und was nicht. Eine stark philosophisch informierte Theorie ist, drittens, nicht minder beliebt und wie sie konkret ausfällt, hängt von den jeweiligen Denkpräferenzen ab: Kritische Theorie in Anlehnung an die Frankfurter Schule und in ihrer Nachfolge, Phänomenologie, Strukturalismus, Dekonstruktion, Poststrukturalismus und neuerdings auch spekulativer Realismus haben alle ihre mächtigen und weniger mächtigen architektonischen Ableger. Eine Architekturtheorie „in einem erweiterten Feld“, hier gemeint als Theorie, die sich als Kulturwissenschaft versteht, ist, viertens, seit den 1980er Jahren auf dem Vormarsch mit einer beinahe unübersichtlichen Vielzahl von Teilgebieten: Feminismus, Identitätstheorie, Postkolonialismus, Sozialtheorie (v.a. im Zusammenhang mit dem Städtebau), Psychologie, Medien- und Kommunikationstheorie und vieles mehr. Um die Jahrtausendwende betrat schließlich eine vermeintlich neue Art des Theoretisierens die Bühne, die sich dem Grundsatz verschrieb, dass Theorie nur dann interessant sei, wenn sie imstande sei, Design zu produzieren, also den Fokus eindeutig von der Theorie selbst auf ihre Operabilität im Entwerfen verschob: „ A design theorist is interested in being operational” (Somol, 268). Aus dieser Fülle der Ansätze entwickeln sich zwei deutlich unterscheidbare Tendenzen, einerseits die Ausdifferenzierung der verschiedenen Theorieteilfelder mit der Herausbildung von distinkten Kompetenzprofilen, die sich zunehmend verselbständigen, andererseits ihre Überlappung, Durchquerung und Durchmischung in Konglomerate mit schwer erkennbaren Konturen. Jedenfalls ist es kaum noch möglich, von der Architekturtheorie im Singular zu sprechen, viel eher von verschiedenen Theoriegenres oder Theoriestilen.

Es mag paradox erscheinen, dass ungeachtet dieser bis an den Rand gefüllten theoretischen Schatztruhe, die sich in der beinahe inflationären Textproduktion unübersehbar manifestiert, allenthalben von einem „Ende“ oder gar „Tod der Theorie“ gesprochen wird. Die Rede davon hat auch Tradition. Sie geht vielleicht zurück auf Roland Barthes „Tod des Autors“ (auch 1967), aber die Tode und Enden häuften sich auf beunruhigende Weise in den 1980ern und 1990ern und setzten sich mit unverminderter Wucht bis heute fort. Im Hintergrund stand das Ende der großen Erzählungen, die Jean-François Lyotard in seinem La Condition postmoderne – Rapport sur le savoir in apokalyptischer Manier 1979 verkündete. Aber bald fanden sich auch andere Todesgründe mit gesamtkulturellem wie spezifisch architektonischem Bezug. Bleiben wir beim Letzteren, so wird z.B. die enge Umarmung der Architektur von den Kräften des neoliberalen Marktes als Ursache zum Ausdienen der Theorie diagnostiziert. Denn die Investorenmacht, so lautet das Argument, ist zwar zur Ausschmückung ihres recht unfreundlichen Gesichts an von einer architektonischen Elite produzierten architektonischen Bijous noch interessiert, der Architektur als kulturelle Leistung zeigt sie aber ansonsten die kalte Schulter, etabliert damit zwar ein architektonisches Star System, bringt aber die Theorie zum Ersticken. Da sind ferner die neuen Werkzeuge, die der Architekt*in zur Verfügung gestellt werden und sie zu kopflosen d.h. auch theoriefernen je nach dem Softwarenutzer*innen, Scriptwriter*innen, BIM-Manager*innen usw. degradiert und sie in digitale Autist*innen verwandelt. Fokussiert man auf den universitären Bereich, so zwingen Bologna-Prozess, Evaluations- und Akkreditierungswut, Exzellenzcluster, Fundingwettbewerb, die „Managerial Revolution“, wie Joan Ockman diese Phänomene kumulativ bezeichnet, zu Stromlinienförmigkeit und zu einem Konformismus, die der Theorie ihre letzten Lebenssäfte aussaugen.

Vielleicht lässt sich aufgrund dieser raschen Skizze erkennen, worin der Grund für das vorhin erwähnte Paradoxon – die Theoriefülle einerseits, ihr Niedergang andererseits – liegt: in einem Auseinandergehen nämlich von Theorie und Praxis der Architektur, in der Auflösung ihrer Verknotung und zwar in einem bisher nie gekannten Ausmaß. Und die Theorie wird bestenfalls zu einem schöngeistigen, aber sonst architektonisch irrelevanten und damit verzichtbaren Zeitvertreib und die Praxis zu einer im Markt beliebig verhandelbaren Ware ohne jede kulturelle Bedeutung. Das alles natürlich in der Tendenz.

Also: Was tun? Bietet etwa die „produktive Theorie“, die als Überschrift der Hannoveraner Tagung gewählt wurde, eine Möglichkeit, das Verfallen in eine eschatologisch grundierte Nekrophilie oder in einen kritisch motivierten Miserabilismus abzuwenden und für sie womöglich neue Perspektiven zu eröffnen? Zuallererst gälte zu klären, was ‚produktiv‘ denn meint, welchen Begriff der Produktion, mit anderen Worten, sich die ‚produktive Theorie‘ zugrunde legt. Denkbar wäre ein logischer Produktionsbegriff, der die Methode des Übergangs vom Allgemeinen zum gleichermaßen Allgemeinen oder aber zum Besonderen kennzeichnet. Für den vorliegenden Fall scheint dieser Produktionsbegriff allerdings nicht sonderlich viel herzugeben. Denkbar wäre ferner ein ökonomischer Produktionsbegriff, bei dem es um die Verwandlung von Produktionsfaktoren, wie Arbeit, Rohmaterialien usw. in Konsumgüter geht. Aber auch dieser Produktionsbegriff scheint für den vorliegenden Fall als wenig ergiebig. Ich vermute, dass die Organisator*innen des Events einen anderen Produktionsbegriff im Sinn führen, der uns in der Tat in die Nähe der klassischen Philosophie führt und namentlich auf den Aristotelischen Produktionsbegriffs. Bekanntlich unterteilte der antike Philosoph das Wissen in drei Kategorien, das theoretische, das praktische und das produktive. Das theoretische ist Wissen um seiner selbst willen; das praktische bezieht sich auf Handlungen, die auf das öffentliche und private Gute abzielen. Es gibt schließlich ein drittes Wissen, das man je nach dem als hervorbringendes oder produktives Wissen ins Deutsche übersetzt, das die Herstellung von Artefakten betrifft. Im VI. Buch seiner Nikomachischen Ethik benutzt Aristoteles für dieses Wissen, das sogenannte produktive, ein einziges Beispiel, die ‚οικοδομική τέχνη‘ (Oikodomike Techne) oder die Baukunst (1140a). Interessant sind die Worte, die das Bauen bezeichnen: ‚ποιητική μετά λόγου‘ (Poietike meta Logou), sagt Aristoteles: eine vernunftbegleitete Poetik ist genau genommen der Begriff, den er verwendet und nicht „ein auf das Hervorbringen [oder die Produktion] abzielendes reflektierendes Verhalten“, wie es mancher Übersetzer möchte (Dirlmeier, 125). Nicht allein Reflektion ist dieser Logos, sondern ein Denken, das der Poesie zugrunde liegt und ihr verschrieben ist, wobei die Poesie wiederum nicht allein auf die Fertigkeit und Fähigkeit des Herstellens beschränkt ist, bezieht sie sich doch nicht nur auf die nützlichen Künste, sondern gleichsam auf die gesamte Kunst, das Theater und die Rhetorik. Ich will hier keine philosophische oder gar philologische Diskussion eröffnen, geschweige denn Antikenkult betreiben. Die Idee taucht ja in verschiedenen Varianten wiederholt auf, etwa in der Moderne, in Paul Klees „bildnerischem Denken“ oder neuerdings in der ‚projective theory‘ und jetzt in der ‚produktiven Theorie‘, die demgemäß nach einer unmittelbaren Nähe der Theorie zum architektonischen Projekt verlangt und nach der Aneignung ihrerseits poetischer, mithin imaginativer, spekulativer und projektiver Denkmodi. Gegenwärtig bieten Lehre und Forschung das beste Terrain zur Umsetzung dieser Forderungen.

© Georgiadis, 2017

INTERDISZIPLINARITÄT

Für den zweiten Band der Publikation de-, dis-, ex-. zum Thema „The Anxiety of Interdisciplinarity“ interviewte Alex Coles (AC) den amerikanischen Kunsthistoriker Hal Foster (HF) zur Frage der Interdisziplinarität in den Trauma-Studien.[1]  Daraus der folgende Auszug in eigener Übersetzung.

AC: Einige Deiner aufschlussreichsten Einsichten in Bezug auf Interdisziplinarität sind in Deinen Anmerkungen enthalten. Eine Anmerkung zum Kapitel „Der Künstler als Ethnograph“ in Deinem Buch „Die Rückkehr des Realen“[2] beispielsweise lautet:

„(Interdisziplinärer) Austausch ist keine triviale Sache in einer Zeit, in der Einschreibungen genau unter die Lupe genommen werden und in der einige Administratoren für eine Rückkehr zu den alten Disziplinen eintreten, während andere interdisziplinäre Projekte als kosteneffektive Programme wiedereinführen wollen. Im Übrigen schien dieser Austausch nach dem Gebrauchtwagenprinzip bezogen auf die Diskurse von statten gegangen zu sein: nachdem ein Paradigma in einer Disziplin ausgedient hat, handelt diese damit und überträgt es auf andere.“

Siehst Du das Metier des Kunstkritikers als etwas zwingend Interdisziplinäres an? Könntest Du das Zitat etwas ausführlicher erläutern?

HF: Der Status der Interdisziplinarität hat sich im letzten Jahrzehnt verändert. Obwohl ich dem Prinzip verpflichtet bleibe, ist es offensichtlich mit Problemen behaftet. Noch vor zwei Jahrzehnten wurden Disziplinen von strikten Konventionen geleitet: überall Disziplinen-Polizei. Das trifft heute nicht mehr zu. Heute sind viele Arbeiten, die sich als interdisziplinär präsentieren, meiner Ansicht nach nicht-disziplinär. Um interdisziplinär zu sein, muss man zunächst disziplinär, d.h. in einer, vorzugsweise in zwei Disziplinen verankert sein; man muss die Historizität der einschlägigen Diskurse kennen, bevor man sie gegenseitig auf den Prüfstand stellt. Viele junge Leute kommen heute mit interdisziplinärem Arbeiten in Berührung, bevor sie in der eigenen Disziplin gearbeitet haben. Das Ergebnis ist oft ein Eklektizismus, der für die Disziplinen von wenig Nutzen ist. Er ist eher entropisch als grenzüberschreitend. Und was die Anmerkung angeht: Interdisziplinarität kann aus Gründen der Kostenersparnis institutionalisiert werden, d.h. mit dem Ziel, weniger Leute dazu zu bringen, mehr Arbeit zu leisten. Wollen wir es wirklich, dass Abteilungen für Literatur, Kunst, Kunstgeschichte, Architektur, Architekturgeschichte und Film von einem Monster mit dem Namen Media Studies aufgesogen werden? Ich möchte es nicht…

1_ London: BACKless Books, 1998, 155-168 (hier: 161f.).

2_ Hal Foster. The Return of the Real – The Avant-Garde at the End of the Century. Cambridge, Mass. & London: The MIT Press (October Book), 1996. Darin: The Artist as Ethnographer, 171-204.

IT’S ARCHITECTURE, STUPID

Da ist von „baukultureller Qualität“ die Rede im Zusammenhang mit der Erstvergabe eines sogenannten Gestaltungszertifikats – eine von der DGNB, der BAK und dem BDA jüngst gestartete Initiative. Eine Seite weiter von einem „baukulturellen Schmuckstück“ (gemeint hier ist das Wasserlabor der Kölner Stadtentwässerungsbetriebe) und noch eine Seite weiter wird für den „Baukultur-Bericht 2016/2017“ der „Bundestiftung für Baukultur“ geworben. Und so geht es weiter in der Dezember-Ausgabe des Deutschen Architektenblattes. Das Übel hatte seinen Anfang vor genau 10 Jahren genommen mit der Gründung nämlich der schon genannten Stiftung und setzt sich seitdem mit unverminderter Wucht fort. Das Übel: die Verdrängung der Architektur von der „Baukultur“. Es ist ganz so, als würde man das Wort Medizin mit „Körperkultur“ ersetzen, um womöglich Vorgänge wie Piercing, Tattooing, Fitness Training und vielleicht noch FKK unter ein gemeinsames, alle am Körper durchgeführte Operationen überwölbendes Obdach unterzubringen. Oder Poesie mit Wortkultur, oder Musik mit Klangkultur usw. Und es ist so, als würden Architekten ein schlechtes Gewissen haben mit dem, was sie tun. Das alles ist natürlich Unsinn, aber doch kein harmloser, steht doch wieder einmal unsere trotz aller gelegentlichen Totansagen quicklebendige Disziplin zur Disposition.

Lohnen würde sich übrigens die Ausschreibung eines Wettbewerbs für beste Übersetzungen des Wortes in andere… Sprachkulturen.

ATHEN-Triumph der Bilder

Nach den zwölf Monaten des Athenischen Kalenders gegliedert, beginnend mit dem Hekatombaion, dem Monat, an dem alle vier Jahre das größte aller Feste zu Ehren der Stadtpatronin, Athena, stattfand, entrollt sich die Geschichte von Glauben, Kult und Ritual, deren formgenerierende Kraft die Menschheit mit einer Fülle atemberaubender Bilder beschenkte. Eine Art konzentrierter Ausdruck dieses Vorgangs – mit dem Fokus auf die goldenen Jahre des Perikles gerichtet – möchte die Schau sein, findet aber ihre Grenze an der Qualität der Kopien und dem „Wie erkläre ich es meinem Kind“-Flair, der ihr anhaftet. Für den Architekten besonders enttäuschend: die Architektur wird lediglich als Träger des Bildes verkürzt dargestellt und nicht selbst als mächtigstes aller Bilder. Dabei hätte spätestens die mehrmals erwähnte Korenhalle des Erechtheion manchen Aufschluss dazu geben können (Liebighaus Frankfurt, bis 4.9.2016).