Monat: November 2014

Auratischer Locus

Es war im Mai 1983. Zwei Tage lang durfte man das frisch renovierte und damals leer stehende  Citrohan-Haus besichtigen. Ich befand mich zufällig in Stuttgart und pilgerte natürlich zum Weißenhof. Das Publikumsinteresse war groß, der Garten und das Haus selbst voller Leute – wie man an Kleidung, Gestik, Wortschatz und Geruch leicht erkennen konnte, die meisten von ihnen Architektinnen und Architekten. Der größte Andrang  herrschte vor der Toilette des 2. OG. Die Architekten haben’s irgendwie mit Toiletten. Zu Recht, denke ich, denn an der Toilette kann man sehr oft den architektonischen Standpunkt weit besser wahrnehmen und verstehen als, sagen wir, am Salon oder an der Fassade und dies trifft auf Le Corbusier allemal zu. Und – wie es sich bald herausstellen sollte – das Haus am Weißenhof bestätigte dies auf ganzer Linie. Nach geduldigem Warten kam auch ich endlich dazu, den kleinen Raum zu betreten – als Besucher, nicht als Benutzer. Mein Blick fiel sofort auf das Fenster; sehr viel mehr gab es da ja auch nicht zu sehen. Aber, was für ein Fenster! Ein schmaler Schlitz, der jedoch vom Boden bis zur Decke reichte, direkt gegenüber dem Klo. „So hat man das Gefühl, auf die ganze Welt zu…“, sagte der Kollege, der neben mir stand und meine Bewunderung gespürt hatte.  Er hatte auch den Punkt getroffen: in diesem Fenster verdichtete sich in der Tat die gesamte geistige Substanz nicht nur des spezifischen Hauses, sondern der ganzen Siedlung. Man wollte, man hatte mit dem, was war, mit der existierenden Welt gebrochen – radikal und unerbittlich: mit der Protzigkeit des Wilhelminismus, mit der historischen Fassade,  mit der massenhaften Kasernierung der Menschen in muffigen, ungesunden  Interieurs und düsteren Innenhöfen aber auch mit den damals kursierenden Traditionialismen jeder Couleur, völkischen oder bloß nostalgischen Zuschnitts – zum Teufel mit alledem!  „Licht, Luft, Öffnung“ war die Losung und in der „Unverborgenheit“ des Hauses erblickte man die neue Wahrheit der Architektur, die architektonische Fleischwerdung der frohen Botschaft der Modernität.

Ich konnte an jenem Maitag des Jahres 1983 natürlich nicht ahnen, wie sehr sich das Haus und die Siedlung mit meiner eigenen Biographie verbinden würden. Es geht dabei nicht nur darum, dass ich  seit zwanzig Jahren schon das Glück habe, tagtäglich aus meinem Fenster schräg auf etwas Oud, LC und Schneck zu blicken, oder bald direkt auf Mies zu stoßen, wann immer ich den Flur vor meiner Tür entlang laufe. Für mich als ewig Fremden hat der Weißenhof stets auch die Rolle eines Ortes eigenartiger Sozialisation gespielt. Denn der Weißenhof ist etwas wie ein modernes Lourdes oder Santiago de Compostela. Pilger von überall her strömen – trotz Stuttgarter (noch) Kopfbahnhofs – in dieses Welt-Dorf, darunter befinden sich Freunde, Bekannte, Kollegen, Kontakte mithin, die in dieser Intensität und Häufung sonst nie hätten aufrechterhalten oder neu zustande kommen können. Das wichtigste ist jedoch das unsichtbare Kraftfeld, das sich um den Weißenhof bildet und einen unausweichlich in seinen Sog zieht, jene auratische Wirkung dieser merkwürdigen Ansammlung schlichter Kuben , die als Teile eines kultischen Prozessionszuges oder als Figuren einer archaischen Tanzformation erscheinen und  deren man nie überdrüssig wird, egal wie oft man sich ihrem Einfluss aussetzt. Magie lässt sich bekanntlich rational nicht erklären, doch vermute ich,  dass der unwiderstehliche magnetisierende Effekt irgendwas mit der Kompromisslosigkeit des Standpunktes, mit der Begeisterung des Neubeginns und schließlich mit der Andersheit gegenüber allem anderen, kurzum mit Authentizität zu tun hat.

© Sokratis Georgiadis, 2014

Dazwischen

Präfiguration (1) könnte die Vorwegnahme seines späteren Auftritts meinen. Einiges spricht dafür; ob aber der Auftritt tatsächlich erfolgte, weiß man nicht mit letzter Sicherheit (2). Vielleicht war es nur eine einfache Synonymie. Präfiguration könnte aber auch etwas ganz anderes bedeuten: das Endziel der Suche nach der eigenen Identität. Und wie in solchen Fällen üblich, würde sich der Blick auch hier nach hinten wenden, zurück auf den Ursprung. Dieser Eindruck wiederholt sich während der Erzählung des Lalo Cura in der Tat recht oft. Sein Name (La locura, span. = der Wahnsinn) ist zugleich Befund. Die Anamnese, die archäologische Arbeit an sich selbst, jedoch wird mehrfach behindert. Zuallererst fehlt der Vater, wohl ein (inzwischen verschwundener) zwielichtiger Geistlicher, von dem der Ich-Erzähler nicht einmal weiß, ob er Katholik oder Protestant gewesen war. Als Junge wuchs er mit seiner Mutter auf und seine Kindheitserinnerungen beschränken sich auf die Erlebnisse in seinem Geburtsort, am Stadtrand der kolumbianischen Stadt Medellín. Er kann sich an ein Haus und dessen Garten erinnern, wohin ihn die Mutter immer mitnahm. Eigentümer war ein deutscher Émigré, Filmemacher und Produzent, der sich auf Pornofilme spezialisierte. Die Mutter, wie auch die Tante des Jungen gehörten zur Gruppe der Darstellerinnen und Darsteller. Während er mit den Gänsen und Hunden im Garten spielte, liefen im Haus die Dreharbeiten. In einem Haus, in dem, wie er vom Deutschen früh genug erfahren hatte, alles – ob Dinge oder Handlungen – falsch war. Und diese Einsicht trug Lalo mit, als er als junger Erwachsener die Filme sah, die im Haus gemacht worden waren. In einem davon erschien seine schwangere Mutter; er selbst war offenbar unterwegs. Präfiguration? Eher nicht (Bolaño war nicht Damien Hirst). Selbst mit den ihm bekannten Fragmenten des früheren Lebens seiner Mutter oder mit der Aussage des einzigen Überlebenden der Crue, des abscheulichsten von allen, nach der er (Lalo) ein cleveres Kind mit offenen Augen (sogar bevor er noch  ins Leben kam) gewesen war, rückt die Auflösung des Geheimnisses der Präfiguration um keinen Deut näher. Letzten Endes erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die Antwort in den Splittern der eigenen Erinnerungen, den erfahrenen Täuschungen und Enttäuschungen, den Träumen und Albträumen seines Lebens verborgen lag. Erstaunlich, mit welcher Gelassenheit er diesem Umstand begegnet, denn Präfiguration ist eine heiße Sache. Zugegeben, sie ist heiß nicht so sehr für den Archäologen, der nach ihr trachtet und womöglich bei seiner Suche nach ihr verzweifelt, heiß ist sie vor allem für ihr Subjekt, den Präfigurator (der Neologismus sei erlaubt), dem Präfiguration Alles bedeutet. Man kann ihn auch beim Namen nennen: der Architekt. Für ihn ist die Idee des Abbruchs der Beziehung zwischen Präfiguriertem und aktual Vorhandenem unerträglich, denn zwischen beiden soll, nach seinem Wunsch und Willen, vollkommene Übereinstimmung herrschen. Das war spätestens seit Leon Battista Alberti so, als der Humanist nämlich von den Rissen oder Zeichnungen des Architekten verlangte, dass in ihnen „die Erscheinung des Bauwerks inbegriffen und eingeschlossen“ sei, als er darauf bestand, dass „die ganze Form und Figur des Gebäudes bereits in den Rissen festgelegt ist“(3). Und man könnte hinzufügen: für immer und für überall festgelegt, zumindest wenn die Figur, die Form den Imperativen der Schönheit folgen soll, jener „gesetzmäßigen Übereinstimmung aller Teile (…), die darin besteht, dass man weder etwas hinzufügen noch hinwegnehmen oder verändern könnte, ohne (die Sache) weniger gefällig zu machen.“(4) Es ist klar: in der Zeichnung ist das Artefakt vorgebildet, präfiguriert. Der Weg wiederum von der Zeichnung zum Artefakt und vom Artefakt zur Zeichnung oder zum Riss, der seit der Renaissance zum privilegierten Notationssystem der Architektur avancierte, ist gradlinig und eindeutig. Alles, was diese Gradlinigkeit und Eindeutigkeit stört, wird als Zwang (die Eventualitäten des Kontextes, des Programms, der Konstruktion, des Materials) erfahren und diesen Zwang will man bezwingen. Hinter dem Gebot der Gradlinigkeit und Eindeutigkeit verbirgt sich also letzen Endes der Wunsch, das zwangsbehaftete Dazwischen (um dessen Erschließung sich Lalo Cura noch mühte) auszuschalten. Heute, am Höhepunkt präfigurierender Techniken,  wird aus dem Wunsch eine Sucht. Das Prinzip Präfiguration wird pervertiert. Alberti kannte nur schattenlose Risse, mit „bestimmten Linien“, „wahren Winkeln“ und „giltigen Maßen“,(5) keine fotorealistischen Renderings. Aber die Technik wird auch aus einem anderen Grunde missbraucht. Die Architekturmaschine, wie sie  Nicholas Negroponte schon seit 1970 ersann und nannte,(6) ist nicht eine „bessere“ Zeichenmaschine (wenigstens nicht nur), keine bloße Präfigurationshilfe, sondern imstande, gerade auf dem verminten Feld des Dazwischen zu agieren. Denn sie ist mit dem  Potenzial ausgestattet, Figuren und Zwänge zu „molekularisieren“, um auf dieser abstrakten (digitalen) Ebene den Kampf um gegenseitige Extinktion in Wechselwirkung zu verwandeln zwischen Elementen (Parametern), die sonst für immer inhomogen, inkompatibel, inkommensurabel geblieben wären. Am Ende steht natürlich das Artefakt, doch dieses Artefakt entsteht nicht mehr im Sinne eines quasi-göttlichen kreativen Aktes, sondern wird als Ergebnis eines zwar kreativen aber nicht-deterministischen Prozesses mit mehreren Akteuren und mehreren Anläufen generiert, erst nachdem mehrere Varianten durchgespielt und mehrere Wege ausprobiert wurden. Und aus dem Gerüst des San Carlino blickt Francesco Borromini mit dem Hammer und der Meißel in den Händen (7) hinunter auf Lalo Cura (span. Kur), der allmählich zur Einsicht kommt, dass es nicht auf den Vater ankommt, sondern auf das Dazwischen. Denn das Dazwischen ist das Leben.

 

1 Roberto Bolaño, Prefiguration of Lalo Cura, The New Yorker, 19. April 2010.

2 Roberto Bolaño. 2666 (Übersetzung: Christian Hansen). Frankfurt am Main 2011 (2004). Kap. 4 (= Der Teil von den Verbrechen)

3 Leon Battista Alberti. Zehn Bücher über die Baukunst (Übersetzung Max Theuer). Darmstadt 1975. S. 19. Zur Zeichnung und der Frage des Identischen bei Alberti, vgl.: Mario Carpo. The Alphabet and the Algorithm. Cambridge (MA) und London 2011.

4 Alberti, 293.

5Alberti, 69f.

6 Nicholas Negroponte. The Architecture Machine. Cambridge (MA) und London 1970.

7 Vgl.: Richard Bösel und Christoph Luitpold Frommel (Hrsg.). Borromini – Architekt im barocken Rom. Darin: Federico Bellini, Von der Idee zur Ausführung, 567ff. und Richard Bösel, Handwerk, 584.

© Sokratis Georgiadis, 2014