Wenn man über Architektur spricht oder schreibt – und damit meine ich nicht nur das, was in der gelehrten Literatur, in den Architekturjournalen, in den zahllosen architektonischen Websites, in den architektonischen Coffee-Table-Büchern und in den Zeitungsfeuilletons steht, sondern auch alles, was die architektonische Alltagsrede sei es im akademischen, sei es im beruflichen Bereich, kurzum den architektonischen Jargon ausmacht –, kehrt ein Wort mit erstaunlicher Beharrlichkeit immer wieder: Raum. Spätestens seitdem der Leipziger Kunsthistoriker August Schmarsow 1893 den Raum und die Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung deklarierte,[1] scheinen Generationen von Architekten fest daran zu glauben, dass Baukunst im Wesentlichen Raumkunst sei. Damals, bei Schmarsow, war das eine theoretische Aussage, die in der Folgezeit wieder aufgegriffen, weiterentwickelt, umgedeutet, auf jeden Fall popularisiert und bisweilen auch trivialisiert wurde. Aus einer theoretischen Aussage wurde somit ein Bestandteil, ein Kernbestanteil sogar, eines Fachjargons, einer fachlichen Vulgata.
Wir werden uns mit dem Begriff vor allem in theoretischer Hinsicht befassen. Theoretische Aussagen oder Theorien der Architektur erfüllen bekanntlich einen zweifachen Zweck. Einmal sind sie Regelwerke, die die architektonische Praxis informieren, dann sind sie aber auch Denkansätze, die die architektonische Praxis begründen, erklären, manchmal legitimieren und nicht zuletzt auch weiterdenken sollen. Theorien der Architektur entstehen also nicht aus reinem, interesselosem Erkenntnisbedürfnis heraus, sondern waren und sind stets Theorien der Praxis. Scannt man nun die Architekturtheorie durch, von ihren Anfängen bis zum heutigen Tage, so wird man durch mehrere Jahrhunderte hindurch wandern und tausende von Buchseiten durcharbeiten, ohne dem Begriff (nicht die bloße Vokabel) „Raum“ auch nur einmal zu begegnen. Und man wird herausfinden, dass die allgemeine Überzeugung, Architektur habe immer etwas mit Raum zu tun gehabt, sich zumindest aufgrund des architektonischen Schrifttums nicht bestätigen lässt. Vielmehr taucht der Begriff recht plötzlich zu einem bestimmten Moment, in einem bestimmten Kontext auf, um sich erst in der Folgezeit ziemlich allgemein zu etablieren. Anders gewendet: Raum erscheint zunächst als etwas Historisches, etwas, was ein Anfangsdatum und, so zumindest vermutet man dann, auch ein Auslaufdatum hat. Dass z.B. ein Architekt wie Robert Venturi im Jahre 1978 auszog, um den Raum als „das tyrannischste Element unserer heutigen Architektur“ zu bezeichnen und zur Befreiung von dieser Tyrannei aufzurufen (obwohl er paradoxerweise das Wort, das er im Übrigen eindeutig mit der Architektur der Moderne identifizierte, selbst mehrmals benutzte), und dass heute Patrik Schumacher sagt, „die Moderne sei auf dem Begriff des Raumes begründet, während der Parametrismus“ – sein Lieblingsbonbon – „mit Feldern befasst“ sei, könnte man als Indizien eines herannahenden Endes des Konzepts deuten.[2]
War der Begriff des Raumes einmal entdeckt, so haben die Kunstwissenschaft und Kunsttheorie – stellvertretend dafür könnte man hochprofilierte Gelehrte, die Ende des 19. /Anfang des 20. Jahrhunderts gewirkt haben, wie Alois Riegl[3] oder Paul Frankl,[4] nennen – mehrfach versucht, diesen Begriff auf die gesamte Geschichte der Architektur zurück zu projizieren. Sie haben den Gang der Architektur durch die Geschichte als eine Aufeinanderfolge von unterschiedlichen Raumkonzeptionen dargestellt und haben damit eine historiographische Tradition begründet, bei der Raum und Raumauffassung zum wichtigsten hermeneutischen Werkzeug der Architekturgeschichte avancierte. Angesichts des Fehlens dieses Begriffs in weiten Teilen des architektonischen Schrifttums könnte man allerdings diese Bemühungen allesamt für Anachronismen halten und folglich auch abtun, für Begründungsversuche post factum nämlich, die mit den tatsächlichen geschichtlichen Gegebenheiten und Vorgängen gar nichts oder nur wenig gemein hatten. Aber so einfach ist die Sache nicht! Warum ist die Sache nicht einfach?
Skateboard
Machen wir hier einen Schnitt, entfernen wir uns für eine Weile von der Architekturtheorie und betrachten einen Skateboarder in voller Aktion. Wie Iain Borden sagt, besteht die ganze Kunst des Skateboardens in der gekonnten Koordination von drei Elementen, des Körpers des Skateboarders, des Skateboards und des Terrains. Das entspricht unserer Erfahrung, doch sind wir jedes Mal erstaunt, wie sich diese drei Elemente, die ersten beiden aktiv bzw. passiv beweglich, das dritte statisch, ganz plötzlich heraus separieren können, um dann wieder in der Bewegung und fast wie im Wunder zusammenzukommen und wir sehen auch verblüfft, wie sich dieser Vorgang dann auf atemberaubende Weise mehrmals und in ganz unterschiedlichen Figurationen wiederholt. Unsere Empirie sagt uns, dass das geht, dass der Vorgang funktioniert, wir wissen aber nicht, warum er funktioniert. Ähnlich geht es dem Skateboarder, der nicht nur weiß, dass der Vorgang funktioniert, sondern zusätzlich noch wie er funktioniert; wie er, mit anderen Worten, seinen Körper einstellen muss, dass das Skateboarden funktioniert. Obwohl er das weiß, hat er wohl keine Ahnung, warum es so funktioniert, wie es funktioniert. Über dieses „Warum?“ Bescheid zu wissen, interessiert ihn wahrscheinlich auch gar nicht. Das ist nicht nur beim Skateboarden so, sondern auch etwa beim Fahrradfahren und beim Schwimmen und mit vielen anderen körperlichen Fertigkeiten, die einmal erlernt, nie wieder vergessen werden. Das sagte bereits in den 1960er Jahren Michael Polanyi, ein ungarisch-britischer Chemiker, der sich später mit großem Erfolg der Wissenschaftstheorie widmete. Und, die wichtigste Erkenntnis von Polanyi lautete, dass diese Art von Wissen nicht nur für körperliche Fertigkeiten, sondern auch für die Wissenschaft von großer Relevanz sei. Wissenschaftliches Wissen bestehe sowohl aus rational begründbaren und begründeten Aussagen, propositionalen Sätzen, wie es in der Sprachtheorie heißt, sie enthalte aber auch Unausgesprochenes, man könnte sagen vorrationales Wissen. Ein solches Beispiel eines „Vorwissens“ wäre etwa die tiefe Überzeugung der Kopernikaner, die sie sogar gegenüber immensen äußeren Angriffen verteidigen mussten, dass die Sonne sich im Zentrum unseres Planetensystems befindet, schon 140 Jahre bevor Newton dies auch wissenschaftlich belegen konnte.[5] Für diesen Sachverhalt verwendete Polanyi den Begriff „tacit“ oder „implicit knowledge“. Roy Landau übertrug in den 1980er Jahren in einem sehr knappen, aber dafür umso aufschlussreicheren Text dasselbe Konzept des impliziten und expliziten Wissens auf die Architektur und die Architekturtheorie.[6]
Vom Blickpunkt des impliziten und expliziten Wissens her gesehen, erscheint nun der Versuch einer raumtheoretischen Begründung der Architekturgeschichte durch die Kunstwissenschaft von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts unter einem ganz anderen Licht als vorhin. Den Vorwurf des Anachronismus könnte man dann nämlich zurückstellen und stattdessen die Frage aufwerfen, ob die Architekten womöglich seit jeher oder zumindest seit sehr langer Zeit in ihrer Praxis zwar mit unausgesprochenen, dafür aber mit konkreten Raumvorstellungen operiert haben. Dass dies so sein könnte, dass also ein räumliches „Vorwissen“ im eben genannten Sinn oder eine räumlich konditionierte „Aufmerksamkeit“ oder „Achtsamkeit“ (awareness) schon vor allen Ansätzen des Theoretisierens über den Raum bestanden haben könnte, scheint bereits der Vitruvsche Text anzudeuten. Einer der Grundbegriffe der Architektur war für den römischen Theoretiker des 1. Jahrhunderts v.u.Z. die Dispositio, „die passende Zusammenstellung der Dinge und die durch die Zusammenstellung schöne Ausführung des Baues mit Qualitas“, wie er erklärte, wobei es Vitruv mit diesem Begriff nicht so sehr auf die Benennung einer Eigenschaft der Architektur oder eines Gebäudes ankam, sondern eher auf die Praxis oder den Prozess, die oder der zur Entstehung eines Gebäudes führte. So gab er als Arten (species) oder Techniken der Dispositio die Ichnographia, die Orthographia und Scaenographia an, die man in heutigen Begriffen als Grund- und Aufriss und Perspektive wiedergeben könnte. Vitruv glaubte also, dass ohne die Beherrschung der Technik der horizontalen und vertikalen Projektion die Dispositio gar nicht zustande kommen könne und eben diese Aussage würde keinen Sinn ergeben, wäre das Gebilde, um dessen zeichnerisches Vorabbild es hier ging, etwas anderes als dreidimensional gewesen. Hinzu kam die Scaenographia, mit deren Hilfe die vorderen und hinteren Teile des Gebäudes koordiniert zur Darstellung kommen würden.[7]
Greifen wir nun noch weiter zurück auf die Zeit, aus der wir über keine schriftlichen Quellen zur Architektur verfügen, so stoßen wir auf die so genannten Paradeigmata. Paradeigmata waren Modelle, dreidimensionale Musterstücke von in der Regel einzelnen Bauteilen, z.B. Triglyphen oder Kapitellen. Ihr Material war je nach dem Holz, Wachs, Stuck oder Ton. Gebaut waren sie im Maßstab 1:1, so dass die Handwerker während des Baus an ihnen Maß nehmen konnten, wodurch vor allem die Einheitlichkeit sich wiederholender, gleicher Bauglieder gewährleistet werden konnte. Es ist aber nicht auszuschließen, dass mit Paradeigmata gegebenenfalls auch Modelle in kleinerem Maßstab ganzer Gebäude gemeint sein konnten. Herodot, der im 5. Jahrhundert v.u.Z., also ganze vier Jahrhunderte vor Vitruv schrieb, berichtete, dass der Apollotempel in Delphi (spätes 6. Jahrhundert) besser ausfiel als das Paradeigma, das dessen Errichtung vorangegangen war. Aufgrund Herodots Darstellung lässt sich vermuten, dass das Paradeigma den ganzen Tempel und nicht nur seine Teile umfasste.[8] Und diese Paradeigmata waren wohl dreidimensionale Vorabbilder der Architektur, die, wäre letztere nicht räumlich gedacht, wieder einmal keinen Sinn ergeben würden.
Perspektive
Die Identifizierung der Architektur als Raumkunst und der Architekturgeschichte als Sukzession von changierenden Raumauffassungen, diese Topoi der modernen Kunstwissenschaft fanden ihr privilegiertes Anwendungsfeld in einer spezifischen Lektüre der Architektur der Renaissance. Diese Lektüre war fokussiert auf die Technik der Perspektive, besser, auf eine exakte geometrische Konstruktion, die später diesen Namen erhielt. Vermutlich von Filippo Brunelleschi in den 1420er Jahren erfunden und ein Jahrzehnt später als costruzione legittima von Leon Battista Alberti in seinem Traktat über die Malerei schriftlich festgehalten, galt diese Darstellungstechnik der Kunstwissenschaft als der Ausdruck schlechthin einer neuzeitlichen Raum- und zugleich Weltauffassung. Das Problem ist nur, dass die costruzione legittima Albertis nichts mehr und nichts weniger war als eine Darstellungstechnik der Malerei (daher wurde sie auch in seinem Traktat über die Malerei und nicht etwa in seinem Architekturtraktat beschrieben und erläutert). Abgesehen davon, schreibt Hans Holländer, dass unsere Augen keine Punkte sind, dass wir in den meisten Fällen zwei davon haben und dass vor unseren Köpfen kein rechteckiger Rahmen steht, stellte Albertis Methode eine maximale Annäherung an unsere Wahrnehmungsgewohnheiten dar.[9] Das sind zwar „kühne Abstraktionen von der Wirklichkeit“, würde Panofsky sagen,[10] haben aber ein sehr konkretes Ziel. Alberti selbst gab es folgendermaßen an: „Ich behaupte, die Aufgabe des Malers bestehe darin, auf irgendeiner ihm gegebenen Tafel oder entsprechenden Wand die sichtbaren Flächen jedes beliebigen Körpers in der Weise mit Linien zu umreißen und mit Farben zu versehen, dass sie [d.h. die Flächen] aus einem bestimmten Abstand und mit einer bestimmten Stellung des Zentralstrahls als plastische Formen erscheinen und die Körper große Ähnlichkeit [mit der Wirklichkeit] haben…“[11] Darüber, ob dieses Prinzip eine produktive Anwendung in der Architektur haben könnte, oder sogar dafür gedacht war, erfahren wir aus dem Traktat Albertis über die Malerei nichts; genauso wenig zum Thema erfahren wir aus seinem Traktat über die Architektur. Ich muss meine vorherige Aussage, dass der Begriff des Raumes im architekturtheoretischen Schrifttum vor dem 18. Jahrhundert nicht auffindbar sei, etwas präzisieren. In den Zehn Büchern über die Baukunst Albertis findet sich das Wort Raum („spatium“) in Wirklichkeit nicht weniger als achtundneunzig Mal. Aber mit Raum wird Verschiedenes konnotiert, so der Abstand zwischen zwei Dingen, ein Zimmer oder eine Nische oder gar ein Zeitintervall.[12] Und, zu einer scharfen Definition des Begriffs, die theoretischen Ansprüchen genügen würde, kommt es nie. Ebenso wenig zu einer Verknüpfung von Raum und Perspektive auf architektonischem Terrain. Allerdings wurde die costruzione legittima von Architekten sehr wohl aufgegriffen und produktiv eingesetzt und fortentwickelt. Drei Beispiele sollen das veranschaulichen.
Santa Maria presso San Satiro war eine kleine Kapelle aus karolingischer Zeit, die in den 1480er Jahren zu einer dreischiffigen Basilika mit Querschiff und Kuppel ausgebaut wurde. Das Problem war, dass der Bau dadurch einen T-förmigen Grundriss erhielt. Was aus Gründen der Form und Größe des Bauplatzes sich verbat, war die Anfügung eines vierten Kreuzarmes, der die Unterbringung des Chors der Kirche erlauben und der Kuppel ihren Sinn als Mittelpunkt der Raumkonfiguration und nicht als deren Endpunkt verleihen würde. Donato Bramante, der beim umfassenden Anbau involviert war, trat auf den Plan. „Nun leuchtete in seinem Geiste der einzigartige Genieblitz auf – schreibt sein Biograf Otto H. Förster –; „er zauberte jenen Kreuzarm dorthin, indem er ihn, in flachem Relief, in perspektivischer Darstellung mit Terrakotta modellierte. Fingierte Pfeiler tragen die fingierte Tonne…“[13]
Im Jahre 1652 erhielt Francesco Borromini von Kardinal Bernardino Spada den Auftrag, im Privatgarten seines Palastes eine Schaugalerie zu errichten. Verwirklicht werden sollte hier eine „prospettiva materiale“, mithin eine gebaute, keine gemalte Perspektive. Borromini löste die Aufgabe, indem er den Galerieraum nach hinten hin verengte (das Verhältnis von vorderer zur hinteren Öffnung betrug 2:1), den Gang ansteigen ließ, die Doppelsäulenstellung mit zunehmender Tiefe ebenfalls graduell verengte und die Säulen selbst nach hinten hin schlanker gestaltete. Die Verengung des Raumes übertrug sich auf das Tonnengewölbe, das dadurch eine konische Form annahm. Borromini und seine Leute machten hier von den Erkenntnissen anamorphotischer Darstellungen der Malerei Gebrauch und erzeugten einen beeindruckenden illusionistischen Effekt, bei dem dieser Raum viel tiefer erschien als er in Wirklichkeit war.[14]
Guarino Guarini konstruierte in der Kapelle der Santissima Sindone in Turin (1667-1690) eine Pseudokuppel, die aus sechs regelmäßig hexagonalen Rippenbogengeschossen besteht. Die Hexagone werden mit jedem Geschoss kleiner, indem jedes Hexagon in das ihm vorangehende eingeschrieben wird, was jeweils durch eine Drehung um 30° erfolgt. Dabei nimmt mit steigender Höhe der Kuppel die Höhe der Geschosse stetig ab. „Der Blick vom Fußboden aufwärts in die Kuppel“, schreibt Harold Meeks, „ist ein außerordentlicher coup de théâtre. Es entsteht der illusionistische Eindruck endloser Distanz, eine infinite Tiefenwirkung einer im Raume schwebenden Architektur. Am Scheitelpunkt öffnet sich das System in einen Zwölfzack-Stern, in dessen Mitte die heilige Taube, lichtdurchblutet von den zwölf Ovalfenstern der Laterne, baumelt.“[15]
Alle drei Beispiele sind Schaustücke eines außergewöhnlich geschickten Umgangs mit dem architektonischen Raum. Man bediente sich der Erkenntnisse der Perspektive, erweiterte sie und setzte sie architektonisch ein, um völlig unerwartete und überaus imposante und zugleich präzise kalkulierte räumliche Wirkungen zu erzeugen. Das Problem ist nur: man ging mit dem Medium des Raumes zwar mehr als souverän um, ohne sich aber in theoretischer Hinsicht dem Begriff des Raumes auch nur anzunähern. Es wäre insofern nicht abwegig, sie als Beispiele impliziten Wissens über den Raum zu bezeichnen, eines Wissens, das da war, sich aber nicht aussprach, sich theoretisch nicht artikulierte. Explizit wird dieses Wissen in der Tat erst etwa einhundert Jahre nach Guarinis faszinierenden Turiner Raumexperimenten.
Sensualistische Wende
Es mag paradox erscheinen, aber den Architekten, der dafür verantwortlich war, beschäftigte ein ganz ähnliches Problem wie seinen italienischen Vorgänger: das Problem der Unendlichkeit. Der französische Revolutionsarchitekt Etienne-Louis Boullée sprach in seiner „Architektur – Abhandlung über die Kunst“ in den 1780er Jahren und mit Bezug auf die Natur vom „außergewöhnlichen Schauspiel eines nicht fassbaren Raumes“.[16] Er verstand den Raum als nicht fest eingegrenzte Ausdehnung und stellte sich als Aufgabe genau das: die Unendlichkeit des Raumes mit endlichen Mitteln architektonisch einzufangen, mit Hilfe der Architektur „den Eindruck räumlicher Ausdehnung“ zu vermitteln, wie er schrieb (74). Es ging ihm dabei weder um die Veranschaulichung der religiösen Idee der Heiligen Trinität wie Guarini in Turin, noch ging es ihm wie früheren Verfassern von architektonischen Traktaten um die Fixierung der objektiven Gesetzte der architektonischen Schönheit, die sich vor allem in der Proportionierung der klassischen Säulenordnungen manifestierte, und in denen sich die Ordnung und die Harmonie des Universums spiegelte. Im Mittelpunkt von Boullées Untersuchung stand die Wirkung der Architektur auf den menschlichen Empfindungsapparat und gleichwohl er auch über das Maß, die Zahl und die Proportion, auch über die Schönheit der Architektur sprach, tat er dies unter dem Blickpunkt der Erzeugung von Affekten bei ihrem Betrachter oder Nutzer. Er ging davon aus, dass jedes Gebäude und jede Gebäudegattung die ihnen eigenen Charaktere besäßen, was zu bedeuten hatte, dass sie auf jeweils unterschiedliche Weise die menschlichen Sinnesorgane berührten und auf den menschlichen Gefühlshaushalt einwirkten. So präzisierte sich die Aufgabe des Architekten im Herausfinden und in der Bestimmung des Wechselverhältnisses zwischen architektonischen Konfigurationen und ihren Wirkungen, immer orientiert an der konkreten Bauaufgabe, die es jeweils zu bewältigen galt. Seine beiden Ressourcen bei diesem Unterfangen waren einerseits die vielfältigen und changierenden Stimmungsbilder der Natur, andererseits die regelmäßigen Körper der Stereometrie, von denen Boullée glaubte, dass sie der menschlichen Vorstellung am zugänglichsten seien.
Etienne Louis Boullée war nicht der erste, der sich mit der Frage nach der Wirkung der Architektur auf den menschlichen affektiven Apparat befasste. Vor ihm stellte beispielsweise Jacques François Blondel in seinem Cours d’architecture (1771-1777) einen Katalog mit nicht weniger als dreißig unterschiedlichen Charakteren auf, auf deren Berücksichtigung der Architekt angewiesen sei, wollte er seinen Gebäuden je nach Bauaufgabe die ihnen angemessene Erscheinung verleihen.[17] Nicolas Le Camus de Mézières (1721-1789) stellte wiederum in seinem Buch von 1780, dessen Titel „Le génie de l’architecture ou l’analogie de cet art avec nos sensations“[18] sich als Programm anhörte, fest, dass nicht alle Gebäude auf uns auf identische Weise wirken: „Das Gebäude, das ein großer Herr bauen lässt, das Palais des Bischofs, die Wohnung einer obrigkeitlichen Person, das Haus eines Generals, das Haus eines Privatmannes sind Gegenstände, die verschiedentlich behandelt werden müssen. Sie erregen nicht einerlei Sensationen, folglich fordern die Verhältnisse des Ganzen, der Massen und der Details einen Character, der ihnen eigenthümlich ist.“ (Huth, 105) Architektur ziehe die Menschen an oder sie stoße sie ab, sie löse Gefühle aus: der Freude und Melancholie, der Ruhe und der Besinnung, der Bewunderung aber auch des Terrors.
Es kann auch kein Zweifel darüber bestehen, dass die sensualistische Wende in der Architekturtheorie direkt oder indirekt analogen Tendenzen in der Philosophie gefolgt war. John Locke, Helvétius und vor allem Condillac mit seinem Traité des Sensations von 1754 wären in diesem Zusammenhang zu nennen.[19] Das Problem mit Blondel und Le Camus war jedoch, dass bei ihnen der Raum als Begriff, wenn überhaupt, so doch nur eine periphere Schattenexistenz führte. Boullée hingegen operierte mit dem Begriff des Raumes. Architekturcharaktere kamen im Medium des Raumes zustande. Dabei behandelte Boullée weitgehend (wenn auch nicht immer) große repräsentative Bauaufgaben, die – nur kurze Zeit vor der Großen Französischen Revolution – noch die Aura des ancien régime mittrugen. Sein Kollege, Zeit- und Gesinnungsgenosse, Claude Nicolas Ledoux, zeigte jedoch zum ersten Mal auf, dass auch alltägliche Aufgaben: Produktionsbetriebe und Fabriken, Arbeiterunterkünfte, Werkstätten und Lagerhäuser, Gemeinschaftsbauten, Erziehungsanstalten, Vergnügungsstätten genauso wie Justizpaläste und Theater, Kirchen und Paläste eminent architektonische Aufgaben waren, keine von ihnen privilegierter oder weniger privilegiert als die anderen. In diesem Zusammenhang stieß wiederum Boullée auf eine Erkenntnis, die weitreichender hätte gar nicht sein können. Er formulierte sie als Kritik der klassisch griechischen Architektur, wohlgemerkt inmitten der aufblühenden Hellenomanie im europäischen Geistesleben, also dessen, was man gemeinhin Klassizismus bezeichnet: „[Man] muss zugeben“, schrieb Boullée, „dass sich die Griechen anscheinend nicht damit befassten, ihren Werken den jeweils eigenen Charakter zu geben. Ihre Tempel zeigen untereinander eine auffallende Ähnlichkeit; sie haben alle mehr oder weniger die gleiche Form.“ (Boullée, 157). Man könnte den Satz fortsetzen und sagen: Wenn den Griechen unter den Bedingungen einer überschaubaren Vielfalt an Bauaufgaben die Differenzierung nicht gelang, wie könnte dann die griechisch-klassische Architektur bei der aktuellen Vielfalt von Bauaufgaben mit ihrer (bereits in der Antike erwiesenen) defizitären Ausstattung erfolgreich eingesetzt werden? – ein Totschlagargument gegen den Klassizismus!
Soweit Boullée. Dessen Ausführungen zur Frage des Raumes können zwar wegen ihrer Knappheit und ihres elliptischen Charakters noch nicht wirklich als zusammenhängende Theorie bezeichnet werden, geben gleichwohl als solche und vor dem Hintergrund des Kontextes, in welchem sie formuliert wurden, wichtige Hinweise, die zur Beantwortung der Frage helfen könnten, weswegen der Raum – offenbar plötzlich – überhaupt zum Thema des architektonischen Theoretisierens wurde. Aus Boullées Äußerungen können drei eng miteinander verwobene Bedingungen dafür extrahiert werden.
1_ Die Verschiebung des Diskurses von einer essentialistischen in eine sensualistische Richtung. Das architektonische Denken befasst sich nicht mehr mit einer Letztbegründung der Disziplin in den Gesetzen einer übernatürlichen, universalen Ordnung, sondern sucht ihren Sinn in der Entsprechung architektonischer Artefakte mit den vom menschlichen Wahrnehmungsapparat vermittelten Empfindungen.
2_ Als Nebeneffekt der Veränderungen des ideologischen, sozialen und ökonomischen Machtgefüges in den europäischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, der allmählichen Verdrängung der Aristokratie von der Bourgeoisie, wandelt sich die Programmatik der alten oder es entstehen ganz neue, den neuen gesellschaftlichen Bedingungen angemessene Gebäudegattungen. Die neuen Zwecke verlangen nach einer grundlegenden Umorientierung des Diskurses, in dessen Mittelpunkt nun das Projekt steht.[20]
3_ Waren die Kirche und der Palast die prominenten Felder architektonischer Entfaltung innerhalb der alten Ordnung, so ist sich die Architektur mit der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft für keine der neu entstehenden Bauaufgaben zu schade. Doch die alten, im Schosse der Theokratie und Aristokratie entstandenen Form- und Symbolsysteme, allen voran das klassische, sind nicht mehr in der Lage der Vervielfältigung der Bauaufgaben begegnen zu können und sie erweisen sich als expressiv-symbolische Medien der Architektur als untauglich, den Geist der neuen Zeit einzufangen.
Architektonisches Kernkozept
Allerdings waren dies zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen zur Etablierung des Raumes als architektonisches Kernkozept. In der Folgezeit jedoch erschöpften sich die architektonische Forschung, die architektonischen Debatten und die architektonische Praxis in der Suche nach dem der Zeit angemessenen architektonischen Stil; einer Präzisierung des Raumbegriffs nahmen sie sich nicht einmal ansatzweise an. “In welchem Style sollen wir bauen?“ – diese vom badischen Architekten Heinrich Hübsch 1828 aufgeworfene Frage war bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt und schien zunächst die ganze intellektuelle Energie der Disziplin zu absorbieren. Letzen Endes eine Sisyphusarbeit, bei der die Potenziale der Architektur sich an verschiedenen Historismen aufzehren lassen mussten, an Versuchen, die immer wieder von Neuem und stereotyp vom Ausdienen der historischen Form- und Symbolsysteme der Architektur Auskunft gaben. Manchmal hatte es sogar den Anschein, als könne die neue Gesellschaft unbeschadet auf architektonische Leistungen überhaupt verzichten. Konfrontiert mit den mehrgeschossigen Fabrikbauten von Manchester, mit den Industrieanlagen Birminghams oder den Londoner Docks zeigte sich kein geringerer als Karl Friedrich Schinkel während seiner englischen Reise im Jahre 1826 vom „unheimlichen Eindruck ungeheurer Baumassen, nur von einem Werkmeister, ohne Architektur und fürs nackteste Bedürfnis allein und aus rothem Backstein ausgeführt“, wie er schrieb, überwältigt.[21] „Ohne Architektur“: das erwecke Gefühle der Niedergeschlagenheit, notierte Schinkel. Denn dahinter lauerte wohl eine ungeheuerliche Gefahr gegen die Existenz selbst der Disziplin! Währenddessen schien die Vorstellung, dass Raum und Architektur nicht nur etwas miteinander zu tun hatten, sondern aufs engste verknüpft seien, zunehmend ins Bewusstsein zumindest der gelehrten Teile der Gesellschaft zu rücken. So meinte Schelling in seiner „Philosophie der Kunst“ (1803-4), die Architektur sei „Musik im Raum“, „eine mit dem Aug empfundene Musik, ein nicht in der Zeit, sondern in der Raumfolge aufgefasstes (simultanes) Konzert von Harmonien und harmonischen Verbindungen.“[22] Auch Schoppenhauer war der Auffassung, dass die Architektur „allein im Raum sei“, dass sie unter allen anderen Künsten die Kompetenz zum Raum habe.[23] Zu einer theoretischen Reife wurde das Konzept dadurch freilich nicht gebracht.
Dazu bedurfte es einer vierten Bedingung, die sich erst ab etwa den 1840er Jahren am Horizont abzeichnete: der extensiven Anwendung von Eisen und Glas in der Architektur. Konstruktionen wie die Bibliothèque Ste-Geneviève von Henri Labrouste (1842), der Jardin d’hivers in der Pariser Avenue des Champs Elysées (1846-7) und allen voran der Kristallpalast auf der Londoner Weltausstellung von 1851 waren für die Zeitgenossen gerade aufgrund ihrer Neuheit extraordinäre, beinahe apokalyptische Erlebnisse. „Wir sehen ein feines Netzwerk symmetrischer Linien“ schrieb ein Zeitgenosse über den Crystal Palace, “aber ohne irgendeinen Anhalt, um ein Urteil über die Entfernung desselben von dem Auge und über die wirkliche Größe seiner Maschen zu gewinnen. Die Seitenwände stehen zu weit ab, um sie mit demselben Blick erfassen zu können, und anstatt über eine gegenüberstehende Wand streift das Auge an einer unendlichen Perspektive hinauf, deren Ende in einem blauen Duft verschwimmt. Wir wissen nicht, ob das Gewebe hundert oder tausend Fuß über uns schwebt, ob die Decke flach oder durch eine Menge kleiner paralleler Dächer gebildet ist; denn es fehlt ganz an dem Schattenwurf, der sonst der Seele den Eindruck des Sehnervs verstehen hilft.“[24] Beschrieben wird ein von Grund auf neues Raumerlebnis, ohne dass es als solches ausdrücklich benannt wäre.
In einem Aufsatz über den Wintergarten von Paris (1849)[25] und dann später in seinem opus magnum, „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ (1860 u. 1863)[26] wies der deutsche Architekt Gottfried Semper auf die Unangemessenheit der offenen Zurschaustellung des Eisens bei monumentalen Bauwerken hin. „Die gefährliche Idee“, schrieb er, „aus der Eisenkonstruktion, angewandt auf Monumentalbau, müsse für uns ein neuer Baustil hervorgehen, hat schon manchen talentvollen, aber der hohen Kunst entfremdeten Architekten auf Abwege geführt.“ (Der Stil, II. 550 ) Das erklärte sich, nach seiner Ansicht, bereits aus der Natur des Eisens. Wegen der geringen Oberfläche der aus diesem Material geformten konstruktiven Glieder entziehe sich die Konstruktion dem Auge, je vollkommener sie sei (Wintergarten, 486); das Eisen sei in letzter Konsequenz „unsichtbarer Stoff“. Den Londoner Crystal Palace bezeichnete er 1851 ein „glasbedecktes Vacuum“[27] und zehn Jahre später wiederholte er mit Nachdruck in „Der Stil“ seine Vorwürfe gegen die Eisen/Glas Konstruktion: In den Stabmetallkonstruktionen treffe man „mageren Boden für die Kunst! Von einem eigenen monumentalen Stab- und Gussmetallstil kann nicht die Rede sein; das Ideal desselben ist unsichtbare Architektur! Denn je dünner das Metall gesponnen, desto vollkommener in seiner Art“ (Der Stil, II. 263-64), schrieb er.
Semper war auch derjenige, von dem man behaupten könnte, er sei der erste gewesen, der den Raumdiskurs auf den Stand einer Theorie erhob. Seine Konfrontation mit der unsichtbaren, sprich: körperlosen Architektur der Eisen/Glas-Bauten seines Umfeldes hatte scheinbar damit nichts zu tun, unterschwellig aber ganz gewiss. Denn Semper verwendete als heuristisches Mittel seines Raumdiskurses gerade die Kehrseite dessen, was er im „glasbedeckten Vacuum“ des Crystal Palace wahrgenommen hatte: den Körper, zunächst den menschlichen. Die Rückbesinnung auf den menschlichen Körper erfolgte, mit anderen Worten, just in dem Moment, als Semper die Gefahr einer Entmaterialisierung des architektonischen zu erkennen glaubte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass angesichts der architektonischen Verlusterfahrung Semper hier, d.h. im menschlichen Körper die letzte Sicherheit dafür vermutete und suchte, dass die materielle Welt sich doch nicht in nichts aufgelöst hatte. Der Körper Sempers hatte denn auch mit der Tradition der Anthropomorphie der Architektur, die seit der Antike einen Topos der Theorie bildete, nichts zu tun. Vom Körper sprach er nicht in Begriffen von abstrakten Zahlenverhältnissen, in denen sich vermeintlich die Gesetze des Universums widerspiegelten; er war an ihm einerseits als materielle Präsenz interessiert und andererseits als Oberfläche. Das verbindende Glied der beiden war die Ornamentik, konkret die Körperornamentik.
Die „formelle Gesetzmäßigkeit des Schmucks“, so war eine 1856 von ihm in Zürich gehaltene Rede überschrieben, deren Inhalte einige Jahre später in die Prolegomena seines Hauptwerkes „Der Stil“ eingeflossen waren und in der Semper den menschlichen Körper als den Motor zur Erzeugung des architektonischen Raumes betrachtete.[28] Er ging folgendermaßen vor: er differenzierte zwischen drei Arten des Körperschmucks: den Behang (und dazu zählten etwa Ohrringe, der Faltenwurf antiker Gewänder, vertikal-symmetrische Ringellocken), den Ringschmuck (wie z.B. Kränze und Kronen, Halsketten, Gürtel, Armringe) und den Bewegungsschmuck (wie Helmschmuck, flatternde Gewänder, Bänder oder Schnüre oder gewisse Haartrachtformen, z.B. Zöpfe). Diesen drei Arten ordnete er gewisse formelle Eigenschaften zu, jeweils die Symmetrie, die Proportionalität und die Richtung, und er sprach ihnen ebenso unterschiedliche symbolische und ästhetische Wirkungen zu; schließlich differenzierte er nach drei verschiedenen Ansichten nach denen jede dieser drei Arten jeweils zu ihrer vollen (optischen) Wirkung gelangte. Er übertrug diese drei Gattungen auf Schmuckformen der Architektur und betonte dabei die Bedeutung ihres Zusammenwirkens in einem Werk. Die Schlussfolgerung, die er daraus zog, hörte sich dann so an: „Es ergeben sich für den Menschen und für Gebilde der Kunst (…), z.B. für die meisten Monumente der Baukunst, drei Achsen der Gestaltung, welche den drei Ausdehnungen des Raumes entsprechen.“ Die drei formellen Eigenschaften des Schmucks bezeichnete er ausdrücklich als „räumliche Eigenschaften“. Aber damit nicht genug. In einer weiteren Bemerkung fügte er diesen drei Ausdehnungen des Raumes eine vierte hinzu. Nein, es handelte sich dabei nicht um ein postkartesianisches Denkexperiment, denn diese vierte Ausdehnung war mit den drei anderen nicht homogen, wie er betonte. Es handelte sich bei ihr vielmehr um einen „vierten Mittelpunkt der Beziehungen“, wie er sagte, den er mit der Gesamtidee gleichsetzte, die aus einem Werk eine Einheit höherer Ordnung machte im Sinne seiner Inhaltsangemessenheit und Zweckmäßigkeit und ihm dadurch seinen spezifischen Charakter verlieh.
Das bislang Gesagte bildet nur einen Aspekt der Raumtheorie Sempers ab. Der Körper, der menschliche Körper steht im Kern dieses Aspekts; der artifizielle architektonische Raum entsteht dabei gewissermaßen als Erweiterung des menschlichen Körpers in alle drei Richtungen. Bedingung dafür ist allerdings das Gewahr Werden des Körpers als dreidimensionale Einheit, deren Erfüllung sich in den unterschiedlichen Formen seiner Ausschmückung manifestiert. Diesen Aspekt könnte man den kulturanthropologischen Aspekt nennen. Ein weiterer Aspekt fügte sich dem hinzu, ein technologischer.
Semper war, wie erwähnt der festen Überzeugung, die Eisenkonstruktion führte zu einer Entstofflichung der statischen Glieder der Architektur, sie brachte sie beinahe zum Verschwinden und biete demzufolge einen „mageren Boden für die Kunst“. Ich vermute, dass gerade diese Erkenntnis es gewesen war, die ihn zu der grundsätzlichen Frage führte, ob die Konstruktion überhaupt etwas Wesentliches in der Architektur darstelle. Er versuchte diese Frage aufgrund einer Archäologie der Kunst des Bauens zu erörtern. Sie führte ihn zu folgendem Resultat: „Das Bedürfnis des Schutzes, der Deckung und der Raumabschließung war einer der frühesten Antriebe zu industriellem (sprich: produktionstechnischem) Erfinden. Der Mensch lernte natürliche Decken benutzen, sie zuletzt durch künstliches Geflecht nachzubilden. Der Gebrauch dieser Decken ist älter als die Sprache, der Begriff der Deckung, des Schutzes, des Abschlusses ist unauflöslich an jene natürlichen und künstlichen Decken und Bekleidungen geknüpft, die somit die sinnlichen Zeichen für jene Begriffe geworden sind und als solche vielleicht das wichtigste Element in der Symbolik der Baukunst bilden.“ (Der Stil, I. 28) Daraus leitete Semper die Dominanz der auf das „künstliche Geflecht“ zurückgehenden Textilkunst hinsichtlich ihrer Relevanz für die Architektur über alle anderen handwerklichen Techniken ab, so die Töpferei, die Zimmermannskunst oder Tektonik und die Maurerei. Im Fokus seiner Betrachtung befand sich eine Abwägung der relativen Bedeutung, die einerseits die Textilkunst und andererseits die Tektonik für die Architektur zufiel. Sie führte ihn zu einem eindeutigen Urteil: Die ursprünglich textilen Raumabschlüsse, aus denen heraus sich die Wand entwickelte, seien das Wesentliche für die Baukunst, meinte Semper. Hingegen (seien), „[die] Gerüste, welche dienen, diese Raumabschlüsse zu halten, zu befestigen und zu tragen, (…) Erfordernisse, die mit Raum und Raumesabtheilung unmittelbar nichts zu tun haben. Sie sind der ursprünglichen architektonischen Idee fremd und zunächst keine formbestimmenden Elemente.“ (Der Stil, I. 228) Die Wand, die Nachfolgerin der textilen raumbildenden und raumteilenden Elemente, hielt Semper für „dasjenige bauliche Element, das den eingeschlossenen Raum als solchen gleichsam absolute und ohne Hinweis auf Seitenbegriffe formaliter vergegenwärtigt und äußerlich dem Auge kenntlich macht.“ (Der Stil, I. 227) Diesen Satz könnte man auch anders formulieren: Die Architektur vermag ihrer Entmaterialisierung sich nur dann zu widersetzen, wenn sie sich als Raumkunst definiert und im selben Moment sich endgültig vom tektonischen Dogma befreit, von ihrer vermeintlichen konstruktiven Bedingtheit. Die Skelettkonstruktion ist der Baukunst äußerlich, nichts mehr als „Seitenbegriff“, ja sie ist „der ursprünglichen architektonischen Idee fremd“.
Wäre eine solche Lektüre zulässig, so bedeutete die Erfindung des Raumes von Seiten Sempers eine grundlegende infrage Stellung aller tradierten Gewissheiten und Regelwerke einer tektonisch fixierten Architektur, ja einen veritablen epistemologischen Bruch, der einer Neugründung der Disziplin im Medium des Raumes gleichkäme. Der Raum besaß aber für Semper eine weitere Eigenschaft. Verstanden als dreidimensional geformte umhüllende Oberfläche, bot sie den Grund, für die Aufnahme all der Zeichen, mittels derer die Architektur ihre symbolische Funktion erlangte. Und die symbolische Funktion wiederum war gleichbedeutend mit der Erfüllung ihrer vornehmsten gesellschaftlichen Aufgabe.
Paradox bei dieser Theorie, die tatsächlich eine grundlegend neue Perspektive für die Disziplin eröffnete, war, dass sie aus der Defensive heraus erwuchs, aus der Feststellung der Defizite nämlich, die der Einzug der Modernität für die Architektur verursachte und dem Versuch, gerade sie zu bekämpfen, wenn nicht rückgängig zu machen. Daher blieb sie in der eigenen architektonischen Praxis Sempers weitgehend wirkungslos. Es war den nachkommenden Generationen vorbehalten, den Raum in ein produktives architektonisches Konzept zu verwandeln. Aber dazu bedurfte es zusätzlicher Hypothesen und gedanklicher Operationen.
1_ August Schmarsow. Das Wesen der architektonischen Schöpfung : Antrittsvorlesung, gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893. Leipzig: Hiersemann, 1894.
2_ Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour. Lernen von Las Vegas – Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. Braunschweig: Vieweg, 1979 (1978). S. 174.
3_ Alois Riegl. Spätrömische Kunstindustrie. Wien: Österreichische Staatsdruckerei, 1927 (1901).
4_ Paul Frankl. Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst. Leipzig und Berlin: Teubner, 1914.
5_ Michael Polanyi. The Tacit Dimension. Chicago und London: The University of Chicago Press, 2009 (1966). S. 23.
6_ Royston Landau, Enquiring into the Architectural Agenda, in: Journal of Architectural Education, 40.2 (1987), 40-41.
7_ Vitruv, 1.2.2: Fensterbusch, 37f.
8_ «Οια δε χρημάτων ευ ήκοντες και εόντες άνδρες δόκιμοι ανέκαθεν έτι (Αλκμεωνίδαι) τον τε νηόν εξεργάσαντο του παραδείγματος κάλλιον τα τε άλλα και συγκειμένου σφι πωρίνου λίθου ποιέειν τον νηόν, Παρίου τα έμπροσθε αυτού εξεποίησαν». Herodot, V 62. In der deutschen Übersetzung (Horneffer, Stuttgart: Kröner, 1971. S. 352) ungenau: paradeigma=Plan. vgl. auch J. J. Coulton. Ancient Greek Architects at Work – Problems of Structure and Design. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1982 (1977). S. 57.
9_ Hans Holländer, Über Perspektiven, in: Daidalos 11 (1984), 83l.
10_ Erwin Panofsky, Die Perspektive als symbolische Form, in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess, 1992 (1924/25). S. 99.
11_ Leon Battista Alberti. Della Pittura – Über die Malkunst (Bätschmann, Gianfreda). Darmstadt: wbg, 2007 (2002). S. 149.
12_ Branko Mitrović. Serene Greed of the Eye – Leon Battista Alberti and the Philosophical Foundations of Renaissance Architectural Theory. München und Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2005. S. 93.
13_ Otto H. Förster. Bramante. Wien und München: Schroll, 1956. S. 97.
14_ Richard Bösel und Christoph Luitpold Frommel (Hrsg.). Borromini – Architekt im barocken Rom. o.O: Electa, 2000. S. 541.
15_ Harold A. Meeks. Guarino Guarini and His Architecture. New Haven und London: Yale University Press, 1988. S. 75.
16_ Etienne-Louis Boullée. Architektur – Abhandlung über die Kunst [Übers. Hanna Böck]. Zürich und München : Artemis, 1987. S. 75.
17_ Jacques François Blondel. Cours d’architecture ou traité de la décoration, distribution & construction des bâtiments. 6 Bde. Paris: Desaint, 1771-1777.
18_ Nicolas Lecamus de Mézières. Le génie de l’architecture ou l’analogie de cet art avec nos sensations. Paris : Benoit Morin, 1780 (deutsch: Der Geist der Architektur oder die Analogie dieser Kunst mit unseren Empfindungen – Übersetzung Huth: Magazin für bürgerliche Baukunst, 1789).
19_ Rémy G. Saisselin, Architecture and Language: The Sensationalism of Le Camus de Mézières, in: British Journal of Aesthetics 15.3 (1975), 241.
20_ vgl.: Antoine Picon, Das Projekt, in: ARCH+ 189 (Oktober 2008), 12-15, hier: 13.
21_ Karl Friedrich Schinkel. Reise nach England, Schottland und Paris. München: Beck, 1986. S. 244.
22_ Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Philosophie der Kunst (Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 5). Stuttgart 1859. S. 575f.
23_ Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 2, Kap. 39: Zur Metaphysik der Musik. Stuttgart: Reclam, 1987 (1818). S. 589.
24_ Lothar Bucher, Kulturhistorische Skizzen aus der Industrieausstellung aller Völker. Frankfurt am M.: Lizius, 1851. S. 10 f.).
25_ Gottfried Semper, Über Wintergärten, in: in: Manfred und Hans Semper (Hrsg.). Gottfried Semper, Kleine Schriften. Berlin und Stuttgart: W. Spemann, 1884. S. 484-490.
26_ Gottfried Semper. Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. 2 Bde. Frankfurt am M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860 u. 1863.
27_ Gottfried Semper. Wissenschaft, Industrie und Kunst – Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls. Braunschweig: Vieweg, 1852. S. 71.
28_ Gottfried Semper, Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol (1856), in: Manfred und Hans Semper (Hrsg.). Gottfried Semper, Kleine Schriften. Berlin und Stuttgart: W. Spemann, 1884. S. 304-343.
© Sokratis Georgiadis, 2015