Monat: März 2019

UM 1900: GRIECHISCHES, ALLZUGRIECHISCHES – Elitistisch-völkische Interferenzen am Rande Europas

Wie Winckelmann, Goethe, Humboldt, Hölderlin und viele andere Arbeiter des „Traums vom Griechentum“ hatte sich auch Nietzsche davor gescheut, griechischen Boden jemals zu betreten, womöglich aus Angst, jenen blanken Spiegel zu zerbrechen, „der immer etwas widerstrahlt, das nicht im Spiegel selbst ist“. Darin stand Nietzsche voll und ganz in der Tradition deutscher Graecophilie. Und eben deswegen konnte sich auch das bei ihm vom Spiegel Widerstrahlte von demjenigen seiner Vorgänger so stark unterscheiden! Nietzsche datierte das griechische Projekt zurück und rächte sich damit an Sokrates, den angeblichen Verhinderer von dessen Vollendung. Der zweite an den antiken Philosophen begangene Mord zerschlug das Bild griechischer Kontinuität und brüskierte damit die Priester des deutschen Griechenkults. Ebenso erschwerte er das Leben der ganz und gar realen neu-griechischen Nietzscheaner, die zwar den Deutschen einen Griechen nannten, zugleich aber an den Meisterdenker einer fernen Vergangenheit, die sie jedoch als die ihre verstanden, keineswegs verzichten wollten. Nietzscheanismus und Sokratismus Hand in Hand: das war ein explosives Gemisch und es blieb nicht aus, dass es an einem europäischen kulturellen Randschauplatz der Jahrhundertwende seine volle Sprengkraft auch tatsächlich entfaltete. Wege zur Avantgarde eröffneten sich dabei ebenso wie Perspektiven des Völkischen, die in einer fiktiven Rückkehr zu den Wurzeln anonymer Volkskultur das Heil aus vermeintlicher aktueller Verlebtheit und Verderbnis suchten.

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Die Debatte um das Nietzschesche Gedankengut findet in Griechenland nicht auf philosophischem Terrain statt, sondern auf literarisch-philologischem. Was ferner den Bezug auf die Person des Philosophen selbst angeht, ist man in den seltensten Fällen explizit; man zieht eher das andeutende Halbdunkel vor. Die Gründe dafür können auf zwei Ebenen vermutet werden: In einem jungen, aus einer Fremdherrschaft hervorgegangenen Land, das bald feststellen musste, ethnisch zu sehr durchmischt und geographisch (gerade bis zu den südlichen Hängen des Olymp reichend) viel zu klein zu sein, gibt das Streben nach nationaler Integration und das Verlangen nach nationaler Identität im Politischen wie im Kulturellen den Ton an. So stellt sich die Lage der Dinge auch um die Jahrhundertwende dar, kurz nach der Niederlage im damals jüngsten griechisch-türkischen Krieg (1897). Ein Hauptschauplatz der Suche nach nationaler Identität ist zweifellos die Sprache. In der Kontinuität der Sprache von der Antike bis zur Gegenwart ist sie zu begründen, so denkt man, und so werden Philologie und damit einhergehend Literatur zu unangefochtenen kulturellen Leitmedien. Der Streit um die Sprache – die Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der antikisierenden bereinigten Sprache („bereinigt“ von den während der Osmanenherrschaft erfolgten Beimischungen) und den Streitern um die gesprochene demotische Sprache (die Volkssprache mithin) – befindet sich gerade in dieser Zeit auf seinem Höhepunkt. Alle intellektuellen Kontroversen (die Regel kennt kaum Ausnahmen) werden durch den sprachlichen Filter gezogen, so auch die philosophischen.

Der Grund des vermummten Erscheinens Nietzsches im griechischen Diskurs mag an der Art und Weise liegen, auf welche Nietzsche selbst die griechische Antike behandelt, und welche ja bereits auf die Ablehnung der Altertumswissenschaft im eigenen Land direkt nach Veröffentlichung des Tragödienbuchs gestoßen war. In Griechenland macht sie gleichsam eine offene und vorbehaltlose Identifizierung mit dem Philosophen problematisch. Das Bild etwa eines dem griechischen Geist „fremden“ Sokrates, das Nietzsche in die Welt setzt, das Bild des antiken Philosophen als „Vorläufer einer ganz anders gearteten Kultur“ als der griechischen, begleitet von den Geschmacklosigkeiten, die sich Nietzsche vor allem in der Götzendämmerung gegen den Athener erlaubt (die sich selbst auf dessen physisches Erscheinungsbild ausdehnen), alles das ist den Neugriechen schlichtweg nicht geheuer. Für Moderne und Ahnenverehrer gleichermaßen ist Sokrates aus der griechischen Tradition, als deren Erben (wenn auch auf verschiedene Weise) sich beide verstehen, nicht wegzudenken. Dionysos und Sokrates sind nicht Antipoden, das Dionysische und das Sokratische kein „neue(r) Gegensatz“, wie in der Geburt der Tragödie zu lesen ist, sondern nur unterschiedliche Aspekte einer ansonsten einheitlichen Kultur.

Auf weite Strecken deliriös, aber auch witzig, bisweilen selbstironisch, aber dafür umso eindrucksvoller beschwört der Essayist und Dichter Perikles Yannopoulos (1869-1910) kurz nach der Jahrhundertwende (wohl mit direktem, wenn auch nicht zugegebenem Bezug auf Nietzsche) diese für Neugriechen lebenswichtige Einheit. Die condition grecque nimmt dann diese Züge an: „Überall herrscht Licht, überall der Tag, überall Behaglichkeit, überall Kargheit, Bequemlichkeit, Weite, überall Ordnung, Symmetrie, Eurhythmie, überall die Wohlgestalt, die Gewandtheit des Odysseus, die Geschmeidigkeit des Jünglings, überall Milde, Anmut, Heiterkeit, überall das Spiel griechischer Weisheit,  überall Frohsinn, sokratische Ironie. Überall Philanthropie, Sympathie, Liebe, überall Verlangen, Lust zum Singen, zum Küssen, überall Begehren nach dem Stoff, nach dem Stoff, nach dem Stoff, überall dionysische Wonne, Sehnsucht nach Trunkenheit, Durst nach Schönheit, Sich Wiegen in Seligkeit. Überall das Vorbeiziehen des stürmischen Windes, des Windes Wucht, des Windes Streitbarkeit und Kraft, und überall das Vorbeiziehen des Windes der melancholischen Schönen, der trauernden Schönen, des Wehklagens im Angesicht des sterbenden Adonis. Und überall der Wind strahlenden Sturmes, der die Glieder bindet und zugleich der Wind der Flöte, der die Glieder mit Lüsternheit entfesselt. Und überall das Vorbeiziehen des Windes mit dem Jammergeschrei der Aphrodite vermischt mit starker satirischer Säure.“

Eine Reihe von Literaten, die geistige Affinitäten zum Denken Nietzsches empfinden, scharen sich um die Literaturzeitschrift Τέχνη (Die Kunst), die sich als Reaktion auf den allgemeinen Werteverfall der Zeit versteht und es auch tatsächlich mit ihrer Frische und Angriffslust vermag, die Geister gründlich aufzuwühlen. Im Editorial des ersten Heftes (November 1898) wendet sich der Verfasser gegen eine allenthalben kursierende vulgäre Literaturauffassung, gegen jene Schreiberlinge mithin, die sich nur an die träge Menge wenden, und sie zufriedenzustellen, als ihr einziges Ziel ansehen. Unerheblich sei jedoch, was dem Publikum gefalle. Was ihm zu gefallen habe, zu publizieren, setze sich die Zeitschrift selbst zur Aufgabe. Hinter dem Einführungstext der konsequent in der demotischen Sprache gehaltenen Zeitschrift vermutet man zwei Literaten von Format: Kostas Hatjopoulos (1868-1920), Lyriker, Prosaist, Kritiker, Essayist und Übersetzer (der sich allerdings später von Nietzsche und den Nietzscheanern abwendet und sich mit der politischen Linken verbündet) und Kostis Palamas (1859-1943), späterer Übervater der neugriechischen Dichtkunst und Nietzscheaner der ersten Stunde.

In den Strudel einer pathetisch geführten Querelle um die Kunst gerät die Zeitschrift bereits im Februar 1899 anlässlich der Aufführung von Henrik Ibsens Hedda Gabler in Athen mit Eleonora Duse in der Hauptrolle. Es ist vor allem die von Gregorios Xenopoulos für die Zeitschrift verfasste Kritik der Aufführung, die so etwas wie einen literarischen Skandal auslöst. Er schreibt: „Anfangs hatten wir befürchtet, dass die große Kunst der Duse dieses Meisterwerk der jüngeren dramatischen Kunst selbst vulgären Menschen verständlich machen könnte. Aber nein! Keine Interpretation – weder die eines Kritikers noch die eines Schauspielers – besitzt die Kraft, ein Drama Ibsens herabzuwürdigen. Mehr noch: so wie die Duse sie in ihrer Tiefe begriffen und gespielt hat – ohne Geschrei, ohne Aufgeregtheit und ohne Gaukelei – ist die Person Hedda Gablers – gerade durch die große Einfachheit – noch unzugänglicher geworden. Und die Zeitungskritiker gaben am nächsten Tage zu, dass sie rein gar nichts verstanden haben. Ibsen und Duse haben triumphiert. Die Kunst eines Autors oder Schauspielers, die der Deutung derer offensteht, die die Auffassung des gemeinen Pöbels vertreten, ist keine Kunst!“  Dass solche Äußerungen den Vorwurf des „Aristokratischen“ und „Elitären“ sich gefallen lassen müssen, liegt auf der Hand. Es verwundert auch nicht, dass die Mitarbeiter der Zeitschrift schlicht als Spalter des Volkes bezeichnet werden. Sie seien allerdings „weniger eitel als ihre Vorgänger (die alten Aristokraten)“, hieß es zudem, „aber dafür egoistischer; das einzige was sie wollen, ist zu verhindern, von jedermann verstanden zu werden.“ (Karkawitsas)

Die selbst im Lager der Anhänger der demotischen Sprache als revolutionär eingestufte Zeitschrift wird dermaßen angefeindet, dass sie ein Jahr nach ihrer Gründung ihr Erscheinen einstellen muss. Eine Nachfolgepublikation gibt es dennoch. Unter dem Titel Διόνυσος (Dionysos) erscheint sie und wird vom Bruder des Kostas Hadjopoulos, Dimitris (1872-1936), der mit dem Pseudonym Bohème unterschreibt, und Yannis Kambysis (1872-1901) herausgegeben. Zwischen 1901 und 1902 bringt es die Zeitschrift zu zehn Heften. Ein Jahr nach ihrem Erscheinen stirbt Kambysis neunundzwanzig-jährig an Tuberkulose.

Statt eines anderen Entrées warten die beiden Herausgeber mit einem Auszug aus Nietzsches Also sprach Zarathustra auf: „‚Warum so hart!‘ – sprach zum Diamanten einst die Küchenkohle; ‚sind wir nicht Nah-Verwandte?‘… Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: werdet hart!“ Es folgt Goethes Prometh mit einer Einführung von Kambysis, der das Drama in eine ‚korrekte‘ Nietzscheanische Perspektive setzt. Neunmal insgesamt bringt die Zeitschrift Auszüge aus Nietzsches Texten in griechischer Übersetzung, darunter aus Nietzsche contra Wagner, aus der Fröhlichen Wissenschaft, aus Morgenröte, aus dem Tragödienbuch. Skandinavische Autoren sind der Herausgeber Lieblinge. Henrik Ibsen, August Strindberg, Knut Hamsun paradieren in den Seiten des Dionysos mit Auszügen aus ihren Werken, Ibsen sogar mit einem ganzen Theaterstück (Wenn wir Toten erwachen, 1899). Aber auch Stefan George und Hugo von Hofmannsthal fehlen nicht. Hinzu kommt etwas England, etwas Frankreich und etwas Russland, so dass Dionysos über seine Funktion als Sprachrohr des Nietzscheanismus hinaus, ein Fenster zur Literatur – des wohlgemerkt vorzugsweise (wenn auch im weitesten Sinn) in der Nähe Nietzscheanischen Gedankenguts stehenden – europäischen Nordens ist. Dass die griechische Literatur dabei etwas zu kurz kommt, versteht sich von selbst.

Über Die Kunst und Dionysos hinaus, die sich explizit als Transmissionsriemen des Denkens Friedrich Nietzsches in Griechenland verstehen, wirkt das Denken des Philosophen, wie gesagt, eher verdeckt, aber nicht weniger nachhaltig. Vom besagten Kostis Palamas, über Nikos Kazantzakis bis zu Aggelos Sikelianos ist das Echo Zarathustras unüberhörbar. Eine Besonderheit weist der Fall Kazantzakis auf, der sich 1908 mit einer Arbeit über Nietzsche habilitiert, 1912 Die Geburt der Tragödie und 1913 Also sprach Zarathustra ins Griechische übersetzt. Nietzsche wirkt aber nicht nur als Futter der Literatur; sein Denken beeinflusst zumeist verborgen, subkutan einen Diskurs mit lebensweltlicher Perspektive, der zuweilen sogar politisch wird und ganz besonders – allerdings über mehrere Zwischenstationen – sich auch auf die bildenden Künste auswirkt.

Dass das Dasein und die Welt nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen seien, ist eine Idee, die im Tragödienbuch bereits erscheint; Nietzsche nimmt sie – den „anzüglichen Satz“, wie er schreibt – auch in der Selbstkritik von 1886 nicht zurück und dies, weil „sie bereits einen Geist verrät, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird.“ Wohl mit Nietzsche im Hintergrund: der Ansatz des hellenozentrischen Utopisten Perikles Yannopoulos lebt gerade von dieser Idee, die der Grieche freilich wörtlich nimmt und sich daran macht, sie unter den realen Bedingungen, der „Optik des Lebens“ sozusagen, zu überprüfen. In den Mittelpunkt der Versuchsanordnung, die er dazu einrichtet, setzt er einen fiktiven Betrachter, um den herum sich das Theater der Welt ausbreitet, und wo Natur und Kultur als miteinander gekoppelte Aspekte in Erscheinung treten. Der Ort ist konkret: eine Anhöhe irgendwo mitten in der attischen Landschaft. „Gehen Sie dorthin“, empfiehlt der Autor dem Betrachter, „während der Morgenröte an einem trockenen, wolkenlosen Tag oder am taghellen Mittag oder besser drei Stunden vor Sonnenuntergang, wenn nicht geweihte Augen alles klarer und einfacher lesen können. Bleiben Sie dort zwei, drei, vier, fünf Stunden. Es passiert Ihnen schon nichts, wenn Sie es einmal tun. Es ist so schön, so wollüstig, wenn man auf dem mütterlichen Boden sitzt und die Pflanzen und die schönen Steine streichelt, mit denen man so schnell eins wird. Setzten Sie sich hin, befreit von jedem Gedanken und jedem Zweck, lassen Sie Ihre Seele das angeschaute Spiel frei genießen und ihr Hirn in seiner Dunkelkammer Hügel, Berge, Küsten, Gewässer, Rauch und Farben fotografieren, eben all das, was erscheint.“ Der Betrachter, wohl selbst ein Grieche, wird sich ähnlich verhalten, wie jene Griechen von denen Nietzsche sagte: „Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!“ Der Betrachter Yannopoulos‘ verweilt an der Oberfläche: „Durch Ihr Sehvermögen können Sie alles Sie Umgebende empfinden. Alles, vom Größten bis zum Kleinsten. Alles erscheint. Alles, wie gering sein Ausmaß auch sei, will erscheinen, genauso wie ein spazierengehender Grieche erscheinen will. Und jedes Einzelnen Wille zu erscheinen, ist so stark und jedes Einzelne erscheint denn auch so stark, dass selbst ein schlanker, im Schatten der Ostmauer der Akropolis wachsender Baum, der vor dem Hintergrund der helleren Luft sich wie ein Haar ausnimmt, dem Spaziergänger des Zappeion-Platzes bis zur achten Abendstunde sagen kann: Auch ich erscheine.“

Um den Satz zu verstehen, muss man auf die sprachliche Besonderheit aufmerksam machen. Mit dem Verb erscheinen wird hier das griechische φαίνεσθαι übersetzt, das auch „ans Licht kommen“, „sich zeigen“, „sichtbar werden“ bedeutet. Aus derselben Wurzel bildet sich dann nicht nur das Substantiv φαινόμενον, Phänomen, sondern auch επιφάνεια, das Erscheinung (so die Erscheinung Christi im Neuen Testament), Ruhm und Würde, aber auch und vor allem im neugriechischen Wortgebrauch „Oberfläche“ meint. Yannopoulos‘ Betonung des „Erscheinens“ der Dinge ist Lob der Oberfläche!

Aber damit nicht genug, denn die Oberflächen des Yannopoulos besitzen in der Tat alle Eigenschaften, die Nietzsche mit der Oberfläche verband: Falte, Haut, Farbe usw. und, wenn man will, noch mehr. Zur Präzisierung verwendet der griechische Autor hierbei das Wort „Linie“, meint aber damit weder Linearität noch Linienhaftigkeit. Es geht ihm eher um das Modulieren der Oberfläche und ferner um ihre Textur und Maserung, um das Optische und das Haptische, das Visuelle und das Taktile an ihr. „Es handelt sich deutlich um eine einzige Linie, die sanft aufsteigt und süß absteigt, die große ruhige Wellen bildet und harmonisch aufsteigt und symmetrisch absteigt, die auf ihrem Wege schöne Kurven zeichnet, geschmeidig und mit jugendlicher Spannung zuweilen aufwärts geht, um in hoher Luft einen Kuß zu empfangen, und mit der Leichtigkeit der Seemöwe in ihrem weichen Rhythmus wieder landet.“

Und:

„Seht, seht aufmerksam jeden großen Stein, jede Schwellung, jede Unebenheit der Erde, jede graublau aquarellierte Felszunge; haltet alle Feinheiten auseinander, die Adern, die Abstufungen, die Farbnuancen; an jedem Hügel alle Schnitte, alle Schnitzereien, an jedem entfernten Hügel alle Arabesken der Natur, die sie im Spiel mit dem Stoff gestaltet…“. Die Erdoberfläche ist wie ein fein gewebtes Tuch, wie ein Spinnengewebe, wie der weibliche Oberlippenflaum.

Die Tiefe, die sich unter der Oberfläche öffnet, wird eher als ihr Echo wahrgenommen. Sie bleibt bei Yannopoulos ebenso wie bei Nietzsche nur Andeutung, Anspielung, vager Hinweis, der ziemlich geräuschlos entlang der Parallele befördert wird, die Yannopoulos zwischen Boden und menschlichem Leib herstellt. Wie die Erde, so der Körper lautet das Postulat. Und diese Beziehung steht, wie zu hören war, im Zeichen der Kurve und ferner der libidinösen Schwingungen, die sie auszulösen vermag: „Die Kurvenlinie des Hügels, der weich gewölbte Hals einer Frau: das sind Linien, die Sympathie erzeugen: das Begehren, sie zu streicheln, die Versuchung, sie zu küssen; ob die Linie der Frau oder die des Hügels, beide ziehen die Hand an zu sanfter Liebkosung, sie verlangen nach Liebkosung.“ Das Lob der Kurve gleitet von der Morphologie der attischen Landschaft hinüber zum menschlichen (männlichen wie weiblichen) Körper, der – laut Yannopoulos – nach ihrem Ebenbild gestaltet ist, und landet schließlich in den Erzeugnissen der Kultur: Es handelt sich dabei um eine „sanfte, feine, kraftstrotzende, wollüstige, musikalische und strahlende“ Linie. „Es ist die Linie des Berges, des Jünglings, der Frau, der Säule, der Metope. So wie wir sie in der uns umgebenden Natur und in der Wirklichkeit um uns betrachten, am Gesicht des Berges oder am Antlitz der Frau: überaus einfach und zahm, gütig, voller zarter Lüsternheit, kräftig und nervös in der Bewegung, ohne jemals etwas von ihrer Feinheit und Anmut einzubüßen…“ Am „Leitfaden des Leibes“ festhaltend, ja viel mehr an dessen berauschtem Anschauen und zärtlichem Betasten sich ergötzend, lässt Yannopoulos die Aura des Eros auch dicht über Natur und Kultur herüberziehen und bietet somit beide ebenfalls dem sinnlichen Genuss dar. Entlang einer sanft sich schlängelnden Kurvenlinie werden ästhetische Erscheinung und erotische Empfindung beliebig austauschbar.

Auch Nietzsche hat die gerade Linie negiert. Aber in einer Art und Weise, die ganz plötzlich jede Ähnlichkeit der Einstellung zwischen dem Griechen und dem Deutschen vermissen lässt. Nietzsche verehrte jene „Tantalusse des Willens,… welche sich im Leben und Schaffen eines vornehmen tempo, eines lento unfähig wussten“, und „begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden“ wie sie waren, sich gleichsam als „geborene Feinde der Logik und der geraden Linien“ präsentierten. Nietzsches durstende und hungernde Unterweltler hätten kaum Bewohner der lieblichen, ohne „großen Stil“ auskommenden attischen Landschaft von Yannopoulos mit ihren reizenden Jünglingen und hinreißenden Mägden sein können. Und hier äußert sich sicherlich auch ein Mentalitätsunterschied. Ein Unterschied zu den bewunderungswürdigen Griechen, den Nietzsche sehr wohl spürte, als er in beinahe verzweifelter Resignation konstatieren musste, wie fremd ihm das Griechische doch eigentlich sei, wie unnahbar vor allem die Fähigkeit der Griechen „mit… kleinen Massen… etwas Erhabenes auszusprechen…“. Oder als er voller Sehnsucht den Wunsch äußerte, „den Süden in sich wieder (zu) entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel des Südens über sich auf(zu)spannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder (zu) erobern; …endlich griechischer“ zu werden.

Wie Nietzsche und etliche Denker nach ihm leidet auch Yannopoulos unter der um sich greifenden Modernität und genauso wie jene will er die „Krankheit der Zeit“ mit allen Mitteln bekämpfen. Anders als seine griechischen Vorläufer von Die Kunst und Dionysos sucht er allerdings nicht nach europäischen Verbündeten. Er gibt sich als Vorkämpfer gegen die Xenomanie der Europhilen seines Landes. Dahinter verbergen sich wohl im Wesentlichen xenophobe Motive, während – dazu symmetrisch – sein radikaler Hellenozentrismus oft die Grenzen einer ethnischen Wahnvorstellung berührt. Die Malaise der Zeit bringt Yannopoulos vorab in Verbindung mit der abendländischen Zivilisation; sie sei „barbarisch, künstlich und unfrei“; sie habe „den Menschen ins Unglück gestürzt, indem sie ihm den Zwang zur Arbeit eingeimpft“ habe, sie habe ihn „zum unglücklichsten Tier auf Erden verwandelt, das unter den Bedingungen der erbärmlichsten Knechtschaft Groschenarbeit zu leisten hat, wie ein Sklave, ein Helot, ein Schwarzer.“ Indem das Leben des Europäers künstlich sei, verwandelten sich sein Geist und seine Künste in Wissenschaften, in Maschinen, Waren, Industrieprodukte. In genauso starkem Maße wendet er sich aber auch gegen das Christentum, vor allem gegen das „bestialische Mönchtum“, wie er schreibt. Mit dem Untertanengeist, den das Christentum den Gläubigen einimpfte, habe es die Herrschaft der Osmanen über vierhundert Jahre mit verschuldet.

Der Kampf gegen diese Mächte geht einher mit der Erwartung einer griechischen Renaissance. Und eben hier bekommt das ästhetische Erlebnis ganz plötzlich eine unerwartete Perspektivik; es mutiert zum ideologischen Programm. Die über den menschlichen Leib und die sanfte attische Topographie gezogenen Fluchtlinien werden in der Idee eines neugeborenen Hellenentums zusammengebündelt. Erst jetzt wird einem bewusst, dass Yannopoulos die ganze Zeit nicht über eine beliebige Linie, eine beliebige Oberfläche, eine beliebige Landschaft und einen beliebigen Leib gesprochen hatte, sondern dass dies alles ganz spezifisch und ganz exklusiv gemeint war: Es war griechisch! Alles war in dieser Beschaffenheit und mit diesem Charakter griechisch und nur griechisch! Die zweckfreie Kontemplation mündet mithin unversehens in den nationalen Fiebertraum. Sogar einen extrovertierten und expansiven zugleich, denn um nichts Geringeres geht es ihm als um die vermeintliche Humanisierung der gesamten Menschheit, zu der die gegen Verderbnis und Verlebtheit aufgestandenen Hellenen angeblich prädestiniert seien.

Die Idee einer – nach der antiken und der byzantinischen – dritten griechischen Kultur, von der Yannopoulos hierbei phantasiert und schwärmt, ist nicht eigene Erfindung. Sie entspringt vielmehr einem fest verwurzelten neugriechischen Nationalmythos, dem Konstantinos Paparrigopoulos in seiner fünfbändigen Geschichte der griechischen Nation (1860-74) ein fragwürdiges, aber dafür umso nachhaltigeres historiographisches Denkmal setzte. Das neue Element, das Yannopoulos dem hinzufügt, ist die konkrete Definition des von ihm ins Auge gefassten mutmaßlichen Herrenvolkes. So hält er die urbanen Eliten des zeitgenössischen Hellas allesamt für dekadent und verabscheut sie; vom Hang zur Nachahmung der abendländischen Übel seien sie durchwegs verdorben und für die Aufgabe absolut unfähig. Tauglich zur dritten griechischen Kultur seien somit nur jene Bevölkerungsgruppen, die von der Flut der Verwestlichung weitgehend unversehrt geblieben seien, und in etwa den Nietzscheschen stets nur singenden Urgriechen entsprechen. Die neue hellenische Kultur keime in der Tätigkeit dieser sozusagen bäuerlichen Edelleute und blühe in den genuinen Äußerungen der Volkskultur auf. Nach deren Lehre soll die Erziehung zum höheren Griechentum erfolgen.

Erneut argumentiert Yannopoulos entlang des Leitfadens des Leibes und bezieht Überlegungen über die bildenden Künste in seinen Gedankengang mit ein: „Dieser hellenische Körper bleibt sich auf ewig gleich. Für die Vergangenheit wird dies von den Künsten bezeugt, für die Gegenwart von der Realität. Die Rückseite etwa der Athenastatue des Phidias, die Linien ihres Leibes, die Schnitte ihres Gewandes begegnen uns in großer Ähnlichkeit in der Sonntagskleidung der Bäuerin. Dieses plastische, faltenreiche weibliche Gewand finden wir beim Geschlecht der Megarer und in einer Reihe anderer Geschlechter in ähnlicher Form vor. Unsichtbar, unverständlich und unerklärlich bliebe die Schönheit des marmornen Menschen ohne Fühlung mit dem heutigen physischen Körper, dem Körper des Bauern.“ Und der ethnische Determinismus mündet schließlich in Präskription, in operative Anweisung: „Die besagte Kleidung des Bauern, die so mannigfaltig ist, trägt alle linearen und farblichen Merkmale unserer byzantinischen und unserer antiken Epoche, der antiken zumal. Aus dieser Kleidung muss der zeitgenössische Künstler die Farben und Farbkombinationen ableiten, die unvergleichlich feiner und origineller sind als die deutschen und französischen.“

Der noble Bauer als Erzieher für griechische Kultur und Größe – ein Gedanke, der stark etwa an Julius Langbehns Forderung nach einer Verbauerung der deutschen Kultur erinnert – streckt seinen Kompetenzbereich auch auf die Architektur aus. Kritik und Ausblick halten sich die Waage: Die aktuelle Situation der Architektur in der griechischen Hauptstadt bezeichnet Yannopoulos als Barbarographie und identifiziert sie als eindeutig europäisch. Die Stadt mache den Eindruck eines Zimmers voller Umzugskram. Überall „vorkragende Volumen, schwer und ungehobelt; knochige Linien, eckig, blitzförmig, zerschmettert; Kollision: ein Wirrwarr von Massen; Kollision: ein Wirrwarr von Linien.“ „Es kommt Ihnen dabei vor, als stünde vor Ihnen ein jämmerlicher Millionär mit dickem Bauch, Pelzmantel, Zylinderhut, Westenkette, Stock und hohem Kragen, so wichtigtuerisch, so steif und aufgeblasen, so frech, unangenehm und prahlerisch: Ihr einziger Wunsch wäre, ihn zu ohrfeigen.“ In der modernen Stadt sieht Yannopoulos auch die „helle und aufrichtige Farbenlust“ der Griechen – auch Nietzsche hatte darüber gesprochen – verraten. Die Häuser, sagt Yannopoulos, sehen mittlerweile aus wie Adlerschiss auf samtenem Gewand. Die griechische Natur ist mit ihrer Panchromie wie der lebendige warme Leib einer schönen Frau, wogegen die Häuser der Stadt wie erstarrte, kalte, in ihrem Brautkleid gehüllte Mägde erscheinen. Weiß steht für die europäische Ästhetik, Polychromie für die griechische.

Die Erziehung zum Griechentum enthält schließlich Anweisungen selbst für die Einrichtung des Hauses: Man solle allen Schund wegwerfen, den Europa für die dummen und barbarischen Völker produziert, und an ihre Stelle Erzeugnisse aus der griechischen Provinz, etwa aus Thessalien und der Peloponnes setzen. Selbst und aus einheimischem Holz solle man seine Möbel bauen. So werden sie billiger, fester, bequemer und weit ansprechender in der Farbe. Und als Schmuck reichen ein paar Wildblumen in einem Krug aus korinthischem, duftendem Zypressenholz vollkommen aus.

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1914, mitten in den Balkankriegen, erscheint die Schrift von Ion Dragoumis (1878-1920), Griechische Kultur. Dragoumis, der vielseitig begabte und überaus charismatische Essayist, Diplomat und politische Visionär setzt das Werk seines Kampfgefährten Perikles Yannopoulos nach dessen Freitod im Jahre 1910 fort. Im 5. Kapitel des schmalen Büchleins erzählt der Autor, der aus seiner Sympathie zu Nietzsche keinen Hehl macht, vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Und ähnlich wie der Verfasser der gleichnamigen Schrift aus dem Jahr 1873 sehnt sich auch Dragoumis nach dem Vergessen-Können: „An einem sonnigen und frischen Septembertag ging ich am Fuße der Akropolis spazieren und dachte, dass die Griechen, vom Vergangenen gereinigt, von jeder Erinnerung an ihre lange Geschichte und jedem Druck durch die moderne fremde Zivilisation befreit, sich dem Leben leicht und frei hingeben sollten, um es nach ihrem Willen zu gestalten.“ Umgekehrt meint er aber auch zu wissen, dass diese Griechen schlecht oder recht außer der kreativen Tat noch einer nationalen Identität bedürften, die bar jeder Erinnerung wohl kaum auskäme. Die Lösung: eine Balance zwischen Tradition und Zukunftsgerichtetheit. Nicht jede Tradition eigne sich aber für die Zukunft, für die kreative Tat. Die Kulturen sind viele, ebenso wie die Wissenschaften, die Künste, die Philosophien, die Wahrheiten, die Lügen je nach Raum und Zeit verschieden sind. So auch die Nationen – heißt es zum Schluss des Arguments. Der scheinbare Pluralismus verwandelt sich also doch letztlich zum Vehikel der Differenz, ja der Exklusivität der hellenischen Nation, die ihre Einzigartigkeit bewahrt, auch wenn sie, soweit es brauchbar ist, Altes und Fremdes integriert. Aber von sich wegstoßen muss sie auch: allen voran den gelehrten Ahnenkult und den Pseudoklassizismus der alexandrinischen Bildung. Die Säfte der Kultur können nur aus dem Baum der völkisch-demotischen Tradition gesogen werden. Absicht ist die Erzeugung einer „neuen Tradition“, die in einen neuen Menschentypus gipfeln soll, der wieder einmal in Nietzscheschen Begriffen gefasst ist. „Die Jungen (werden) dionysisch und apollinisch, die alten olympisch, die Frauen – Geliebte und Mütter und Schwestern – der Männer Stärkung und nicht Schwächung, die  Kinder verrückt und stark und anmutig, Vorprägungen des perfekten Menschen, Hoffnung eines höheren Menschentums.“ Eine neue Aristokratie soll zur „neuen Tradition“ erziehen: das schwebt Dragoumis vor.

Den Künsten fällt dabei eine besondere Rolle zu, vorab der Architektur, der Malerei und der Musik, da in ihnen die demotische Tradition am intensivsten fortlebt und weil gerade diese Künste sich ans ganze Volk wenden, nicht – wie etwa die Literatur – allein an die Gelehrten und Gebildeten. Am ausführlichsten äußert er sich zur Architektur: „Der erleuchtete Architekt durchwandert die griechischen Städte und Dörfer und studiert die byzantinische Architektur an den Kirchen, und Kapellen, an den Schlössern, den Häusern, den Burgen, überall. Nicht sie nachzuahmen ist sein Ziel (das Kopieren ist nicht schwer, aber doch nicht originell), sondern festzustellen, bis wohin es die Griechen der letzten griechischen Kultur in der Architektur gebracht hatten, um genau an der Stelle anzusetzen, wo diese aufgehört hatten, und daraufhin zu versuchen, eine neue griechische Architektur ins Leben zu rufen… Genau von dem Punkt aus wird also jeder Grieche, der die in ihm verborgene Kraft in Bauwerken auszudrücken wünscht, die Architektur fortsetzen. Er wird sich zuerst von den Baumeistern Rat holen, denjenigen, die in den Dörfern den Plan entwerfen und die Häuser bauen. Er soll sie fragen, auf welche Art sie bauen und versuchen, ihre Kunst zu vervollkommnen.“ Hier bezieht sich Dragoumis auf die postbyzantinische Alltagsarchitektur, auf Patrizierhäuser in der Provinz und anonyme Bauernhäuser auf dem Dorfe, die, wie er sagt, Vorahnungen der zukünftigen griechischen Architektur darstellen. Und er fährt fort: „Außer im Norden und in Bergdörfern, wo der Schnee fällt, werden die aus Stein gebauten Häuser Terrassen haben, also flach bedeckt sein, ohne Dächer. Sie werden zahlreiche Fenster haben, die gut schließen, um gegenüber der Kälte abzudichten. Und sie werden Jalousien haben, um im Sommer vor der Sonne zu schützen. Jedes Haus wird einen Hof haben und womöglich einen Gemüsegarten. Geheizt wird im Winter vom Kamin. Zur Häuslichkeit gehören auch Möbel und Geschirr. So hat die Architektur auch einen Bezug zur Möbelkunst, die beispielhafte und ausbaufähige Vorbilder zur Verfügung stellen kann.“

Dragoumis fiel zweiundvierzigjährig 1920 einem politischen Attentat zum Opfer. Zeitlebens schwärmte er von der sogenannten Großen Idee des Griechentums, die in seinen Augen die Konturen einer (friedlichen) Restitution des byzantinischen Reiches annahm.  Kaum zwei Jahre nach seinem Tod erlitten die expansionistischen Pläne Griechenlands in Kleinasien eine deutliche Abfuhr, die griechische Armee eine herbe Niederlage, über eine Million Menschen wurden verjagt. Die „Katastrophe“ verlangte nach Erklärungen; doch bei der Suche nach den Gründen der nationalen Demütigung gelangte immer nachdrücklicher eine einzige Frage in den Mittelpunkt: die nach der griechischen Identität. Intellektuelle scharten sich zusammen in der Bewegung Zurück zu den Wurzeln und gerade in diesem Kontext erbitterter Endoskopie und Omphaloskopie fanden die kulturpolitischen Ideen Dragoumis einen nahrhaften Boden.

Im Jahre 1925 erschien der viel beachtete Aufsatz des Architekten Dimitris Pikionis Unsere Volkskunst und Wir. Er formulierte darin das Programm einer im Wesentlichen modernen Kunst und Architektur. Beide legitimierten sich in der Tradition der anonymen Volkskunst, in der demotischen Tradition. Nur Nietzsche war nunmehr aus dem Horizont verschwunden.

Alle Zitate aus dem Griechischen in eigener Übersetzung.