Monat: Januar 2016

Tabula rasa

„Griechenland müsste den Schengen-Raum verlassen“, so die Forderung einiger EU-Politiker, zuletzt des Bayerischen Innenministers, in Anbetracht  der Flüchtlingskrise, die Europa im vergangenen Jahr verstärkt heimgesucht hat. Der Grund dafür sei evident, behaupten sie: Griechenland sei außerstande seine Grenzen, die zugleich EU-Außengrenzen sind, effektiv zu schützen! Was hätte aber Griechenland angesichts der Menschenströme, die seine Ostägäischen Inseln von der türkischen Kleinasiatischen Küste herkommend erreichen, besser machen sollen? Hätte es den schmalen Meerstreifen, der beide Länder trennt, verminen, hätte es die Schlauchbote mit je einigen Dutzend Menschen versenken oder sie zurückdrängen sollen und dabei das Risiko in Kauf  nehmen, sie zu versenken? Es ist klar: diese Herrschaften wünschen sich ein Europa der Grenzen, Zäune und Mauern und  ihnen schwebt – ob implizit oder explizit – eine Schengen-Geographie à la carte vor. Die Karte würde dann ein europäisches Flachland abbilden, das die Möglichkeit der totalen Überwachung und der totalen Abriegelung gewährt. Eine solche Geographie hat der Soziologe Wolfgang Sofsky vor gut 20 Jahren mit einer ganz spezifischen Ordnung des Raumes identifiziert: „Die Geographie des modernen Konzentrationslagers“, schrieb er, „ist nicht das Resultat einer Geschichte, sondern eines idealen Plans, der auf historische oder natürliche Bedingungen keine Rücksicht nimmt. Häuser und Ortschaften, die im Wege standen, wurden umgewidmet oder beseitigt, der Wald wurde abgeholzt, Sumpfgelände mit Sand aufgefüllt, enge Talsenken und steile Berghänge mit Terrassen abgestuft. Der Standort wurde geräumt, um auf dieser Tabula rasa das Lager nach Modell aufzustellen.“ Soll sich das Europa des 21. Jahrhunderts wirklich daran ein Beispiel nehmen? Den Architekten ist der Τabula rasa Gedanke nicht fremd. Manch ein Ingenieur von Utopia (Popper) hat sich in einer Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten daran begeistert. Aber wir dachten, dieser Gedanke sei nunmehr historisch erledigt.