Monat: November 2015

VON DEN GUTEN UND VON DEN SCHÖNEN

Gleich in der Einführung zu einem neueren Beitrag zur Frage der Modernität, „A Singular Modernity – Essay on the Ontology of the Present“ (2002, dt.: Mythen der Moderne, 2004), diagnostizierte der führende amerikanische Postmoderne-Theoretiker, Frederic Jameson, einen die aktuelle kulturelle Stimmungslage heimsuchenden „intellektuellen Rückschlag“. Gekennzeichnet sei dieser, nach Jameson, u. a. von einer Wiederkehr der traditionellen Philosophie, v. a. der Moralphilosophie, von einer Wiedererweckung des politischen Denkens des 18. Jahrhunderts, vom Wiederaufleben einer antiquierten, marktorientierten politischen Ökonomie. Ein weiterer Bestandteil dieses toxischen Gemisches sei nicht zuletzt ein erneutes Interesse an der Ästhetik. „Und dann kommt noch die Wiederbelebung der Ästhetik“, so Jameson, „einer Disziplin, von der wir glaubten, sie wurde von der Moderne erfunden, um von ihr gleich demontiert zu werden, indem die verschiedenen Formen des Erhabenen ästhetische Fragen ausradierten, sobald sie auftauchten. Und dennoch beginnen heute Menschen schon wieder die Frage nach der Schönheit zu stellen, dem zentralen Gegenstand mithin, dessen bürgerliche Motive an seinen beiden Endpunkten abzulesen sind: einerseits an den Trivialisierungen des rein Dekorativen und Vergnüglichen, andererseits am sentimentalen Idealismus der verschiedenen Ideologien ästhetischer Rechtfertigung.“

Vollständig erledigt war die Schönheit selbst in der Moderne freilich niemals. Allerdings trifft zu, dass sie allmählich aus der Domäne der hohen Kunst, ihrer Theorie und Philosophie auswanderte, um sich dafür auf einem anderen Terrain umso effektiver und nachhaltiger ausbreiten zu können: in der Massenkultur. „Die Entthronung des Schönen in der modernen Kunst“, bemerkte dazu Winfried Menninghaus, „steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur ubiquitär werdenden Affirmation des Schönen in den alltagsästhetischen Moden, in Design, Werbung und Kosmetik.“[1]

Jamesons Kritik bezog sich aber nicht auf die bunten Früchte der Massenkünste und ihrer schönheitsversessenen Mikrokosmen, sondern auf eine Trendwende in den oberen Etagen der kulturellen Arena. Er beklagte eine Neuausrichtung der Kunstwelt, die auf eine Entstigmatisierung der Schönheit hinausliefe – hinter der Jameson das lauernde Gespenst der Verbürgerlichung vermutete und befürchtete. Aus der Luft gegriffen waren Jamesons Beobachtungen nicht.

„Beauty“, so lautete die Antwort des renommierten Kunstkritikers David Hickey, als er während eines universitären Rundtischgesprächs in den frühen Neunzigern gefragt wurde, welches das beherrschende Thema der kommenden Zeit sein würde. Damals, sagte Hickey, „schwebte (diese Antwort) als sprachloses Wort, ruhig, verblüffend und fremd in jenem glatten institutionellen Raum – wie ein Präraffaelitischer Drache hoch oben mit seinen ledernen Flügeln.“ Kurze Zeit später waren es just die von Hickey verspotteten Institutionen, die das geflügelte Wort aufgriffen und zum kategorischen Imperativ der Kunst verwandelten: „Beauty Matters“ lautete etwa der (zweideutige) Titel eines von der American Society of Aesthetics 1999 organisiertes Symposion „Regarding Beauty – Perspectives on Art since 1950“ und derjenige einer Ausstellung im Hirschhorn Museum in Washington D.C. im selben Jahr.[2] Für die Trendwende war aber weniger die Kritik als die Kunst selbst verantwortlich. Dabei suchte sie, die Kunst, die neue Schönheit, anders als von Jameson befürchtet, weder in arkadischen Landschaften noch in – sei es auch durch shaping, lifting und styling – zur Perfektion gereiften menschlichen und sonstigen Körpern. So entstand Andres Serranos urindurchtränkter Kruzifix (1989) ausdrücklich im Streben des hondurianisch-afrokubanischen, katholisch erzogenen Künstlers nach Schönheit. Damien Hirsts 14 Fuß langer Haifisch im Formaldehydbad war als mit Grausamkeit kombinierte Schönheit gedacht. Und die Selbstbildnisse en travestie des Japaners Yasumasa Morimura trugen den an Sören Kierkegaard angelehnten Ausstellungstitel „The Sickness unto Beauty – Self-Portrait as Artist“ (Schönheitskrank – Selbstbildnis als Künstler). Die Schönheitsflut kommt seitdem nicht zum Stillstand, streift je nach dem an den Oberflächen der Dingwelt oder gräbt sich in immer tiefere Abgründe der menschlichen Seele ein;  mittlerweile überfallt sie sogar auch die sonst in tiefer Lethargie ihr Dasein fristenden bundesrepublikanischen Provinzen – die Spannweite reicht dabei von der  „Schönheit der Pommes frites“ (Dieter Krieg) bis zur „Schönheit des Todes“ (Gregor Schneider). Die „Schöne neue Welt“ wird – bedeutungsverschoben neu entdeckt und die „extra schöne“ alte genauso, während man parallel dazu seine geistige Energie mit der gebotenen Intensität der Beantwortung der Frage widmet, ob wohl Schönheit messbar sei.

Und die Architektur? Glaubt man den verbalen Äußerungen einer Gruppe ihrer Akteure, so scheint hier eine nicht unerhebliche Störung vorzuliegen. Ein Symptom dafür: die stereotype Verwendung des Prädikats „gut“, wann immer es um die positive Beurteilung architektonischer Werke geht. „Gute Architektur“ bis zum Überdruss, Barmherzigkeit (?) als höchstes anzustrebendes Ideal einer nur noch dienstleistenden Profession. Das ist der aktuelle Stand der Worte, in weiten Teilen gekennzeichnet von einer an der Kette eines zur Mumie erstarrten, tristen Modernismus gebundenen Enthaltsamkeitsrhetorik, die auf die Denunzierung und Kaltstellung oder bestenfalls die Tabuisierung des Ästhetischen hinausläuft. Höchstens die Eleganz darf sich der Güte hinzugesellen. Aber Vorsicht! Nicht etwa im Sinne eines ästhetischen Zugeständnisses. Keineswegs! Denn Eleganz kennzeichnet lediglich die Wege, die Prozesse, die Methoden, die zu den Dingen führen, nicht aber die Dinge selbst. Diese sind oder sollen weiterhin nur gut sein.

Davon, dass die Dinge mitnichten nur gut (warum denn, bitte schön, nicht gleich sehr gut?) sein können oder sollen, zeigt sich spätestens an der elektrisierenden Wirkung, der hohen Attraktivität und nicht zuletzt der kulturbildenden Kraft, die Werke der Architektur dennoch entfalten können. Und eben dies ist einer weiteren Gruppe von Architekten nicht verborgen geblieben.

„Architekten werden über kurz oder lang die Modeschöpfer der Zukunft. Architekten sollten mit Unternehmensberatern, Ingenieuren, Marketingspezialisten und anderen ‚Kreativen‘ Allianzen schmieden, um in einer Welt, in der Veränderung die einzige Konstante ist, zu Managern der Veränderung zu werden“: so Ben van Berkel und Caroline Bos an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Ihre Aussage hört sich an wie das Programm einer neu anbrechenden Ära der Architektur. Was sie besonders interessant macht: in ihr treffen zwei unterschiedliche Impulse zusammen: einerseits die Begeisterung für die von den Kräften der Globalisierung angetriebene ökonomische Wirklichkeit, die Entschlossenheit auf der Welle des Business und des Marketing nicht nur zu reiten, sondern sie sogar weiter zu beschleunigen; anderseits das Beharren auf die traditionelle Rolle der Architektur als ästhetische Praxis. Die Verbindung des ökonomischen mit dem ästhetischen Moment ist dabei jedoch nicht wirklich das neue Element. Geisteswissenschaftler sprechen seit längerem von einer „ästhetischen Ökonomie“ von einer Ökonomie mithin, die nicht mehr primär auf das Bedürfnis, sondern auf das Begehren ausgerichtet ist, auf das Begehren, dessen Erweckung und permanente Stimulation für eine wachstumsabhängige und wachstumsbesessene Wirtschaftsform, wie der Kapitalismus, überlebensnotwendig ist. Die Scharen der Designer, Kosmetiker, Werber und Modeleute, deren Tätigkeit in den letzten Jahrzehnten zu einem äußerst wichtigen ökonomischen Faktor geworden ist, bestätigt die Rede von der „ästhetischen Ökonomie“ in vollem Umfang. Wirklich neu an der Aussage von Ben van Berkel und Caroline Bos ist also nicht so sehr die Verbindung der beiden Faktoren – Ästhetik und Ökonomie –, sondern eher die darin enthaltene Andeutung, dass nun auch die Architektur nach einer langen Phase der Verteidigung eines halbwegs autonomen Status, nach einer langen Phase des erhabenen Widerstands gegen die eigene Instrumentalisierung und Vereinnahmung von den Kräften des Marktes nunmehr in der Welt der globalen Ökonomie angekommen ist. Dabei handelt es sich nicht um die Anwendung einer Strategie, die sich auf eine subtil-subversive Dialektik von Komplizenschaft und Ungehorsam stützt (Konrad Wohlhage), sondern um ein vollständiges, gewolltes, ja sogar selbst initiiertes Aufgehen in die von der Ökonomie diktierte Logik. Die Bestandteile dieser Logik bündeln sich zusammen zu einem Wertekanon, den die Architektur fast wörtlich aus den Handbüchern des Management und den Lehrheften des Business Administration übernehmen soll:  Innovationsbereitschaft, Risikofreude, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit Handlungsorientiertheit und vor allem Schnelligkeit. Der Maßstab, an dem das architektonische Produkt gemessen wird, orientiert sich infolgedessen vorrangig nach seinen performativen Qualitäten, nach seiner Performance oder Leistungsfähigkeit und zwar nicht mehr im Sinne der Erfüllung der vitruvischen Trias  – utilitas, firmitas, venustas -, sondern vorab nach seiner Tauglichkeit, im Rahmen der von der ästhetischen Ökonomie aufgespannten Bühne effektiv zu wirken. Folgte man dieser Auffassung, so könnte man sagen, dass die Fähigkeit der Architektur zur Erzeugung von Emotionen, zur Erregung von Begehrlichkeiten und zur Suggestion von Lebensstilen nunmehr im Mittelpunkt des architektonischen Dispositivs steht, d.h. in der architektonischen Tätigkeit tonangebend wird, sie orchestriert. Die Ironie dieser Geschichte ist, dass diese als neu sich gebärdende Wendung des Diskurses so neu gar nicht ist. Die Einsicht, dass Architektur auf den menschlichen Empfindungsapparat wirken kann und soll, war kein plötzlicher Einfall europäischer Lifestyle-Architekten, keine Geistesblitz ihrer amerikanischen akademischen Kollegen, die sich von ihren „kritischen“ Vätern endlich befreien wollten. Es gibt in der Tat eine lange Tradition des Nachdenkens in der Architektur über ihre „Analogie zu unseren Empfindungen“, die spätestens zu jenem Zeitpunkt ansetzte, an welchem das metaphysische Obdach unserer Disziplin zu zerbröckeln begann. Dabei ging es sicherlich auch um die Erschließung von Techniken des Ansprechens der menschlichen Affekte und Gefühle, um die Methoden einer Emotionsrhetorik, die nicht mehr in perfekten Geometrien und göttlichen Proportionen nach ihrem Legitimationsgrund suchen konnte und wollte. Es ging aber auch und in mindestens genauso starkem Maße um das Freiwerden architektonischer Expressivität, um die „Poesie der Architektur“, wie es Etienne-Louis Boullée vor über zweihundert Jahren formulierte. Auf die heutige Situation gewendet, deutet gerade diese expressive Tendenz – über welche die Apostel der Ökonomisierung gern hinwegsehen – darauf hin, dass die architektonische Tätigkeit Züge aufweist, die sich über die Logik der ästhetischen Ökonomie hinwegsetzen oder zumindest hinwegsetzen können und dass selbst die von der ästhetischen Ökonomie gefütterte Emotionsmaschine Architektur Energien freisetzt, die imstande sind, die vorgegebenen Rasterungen der angemessenen Effekte oder die gesetzten performativen Grenzen zu überschreiten – dass sie, mit anderen Worten, Freiheit realisieren kann.

1_ Winfried Menninghaus. Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2007. S. 270.

2_ The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 57.1 (Winter 1999).

© Sokratis Georgiadis, 2015