Monat: November 2020

ARCHAISCHE AGILITÄT

Den Architekten erfüllte seine Schöpfung mit Stolz. Von Selbstbewusstsein strotzend ritzte er sogar seinen Namen in den Steinstylobat an der linken Seite der Tempelfront ein. Und als hätte dies nicht gereicht, fügte er ein persönliches Urteil über die eigene Leistung hinzu – dass der Bau Säulen hatte, spielte dabei eine besondere Rolle. Er bezeichnete ihn als „kala erga“, „schöne Werke“.(1) Diese Geste ist in der Architektur der griechischen Archaik einzigartig, der Stolz des Architekten jedoch keineswegs unbegründet. Der dorische Apolltempel in Ortygia (das später Teil von Syrakus werden sollte) war in der Tat der erste Ringhallentempel aus Stein, der in einer griechischen Kolonie des Westens errichtet wurde, und sicherlich auch einer der ersten Tempel dieser Art im griechischen Raum insgesamt. Mit anderen Worten handelte es sich bei ihm um den Ursprung einer Entwicklung, die anderthalb Jahrhunderte später in der klassischen Architektur (nach gängiger Lektüre) ihren Kulminationspunkt erreichte.

„Kleomenes, Sohn des Knidieides, machte dies für Apollo…“

Entdeckt wurde der Tempel im Jahre 1862, aber die Ausgrabung wurde nicht vor 1943 vollendet. Es mutet irgendwie merkwürdig an, doch die Historiographie hat seitdem diesem bemerkenswerten archaischen Bauwerk kaum die seiner historischen Bedeutung gebührende Anerkennung geschenkt. Keine Bekundungen der Bewunderung, sondern zumeist abschätzige Urteile sind die Regel, Tadel allenthalben statt Lob! Dinsmoor z.B. bezeichnet den Tempel als Werk „kultureller Rückständigkeit“ und „provinziellen Geistes“,(2) als ob das griechische Mutterland um dieselbe Zeit, d.h. im frühen 6. Jahrhundert v.u.Z., Beispiele höherer Qualität, Komplexität oder vergleichbarer kultureller Stoßkraft und Tragweite vorzuweisen hätte. Gruben wiederum stellt die „Urtümlichkeit“ des Tempels fest, um gleich darauf auf vermeintliche „Widersprüche“ und „Ungereimtheiten“ hinzuweisen.(3) Selbst Dieter Mertens spricht in seiner ansonsten so hervorragenden Studie über die Architektur der Westgriechen von einem „plumpen Gebilde“.(4) Wie ist ein derartiger Umgang mit dem Bauwerk überhaupt zu verstehen? Die Antwort auf diese Frage hängt offenkundig vom Blickpunkt des Betrachters ab. Geht man an den Tempel von Ortygia unter dem Eindruck und dem Einfluss der ‚reifen‘ griechischen Architektur der klassischen Zeit heran, so treten seine vermeintlichen Schwächen unvermeidlich in den Vordergrund. Der frühe dorische Ringhallentempel von Syrakus entsprach jedenfalls in einer Reihe von Punkten dem vollendeten, in spätarchaischer und klassischer Zeit erreichten dorischen Kanon nicht. Betrachtet man hingegen den Apolltempel im Kontext der Architektur seiner Zeit, so stellt man mühelos fest, dass es sich bei ihm um eine außerordentliche, überaus innovative architektonische Leistung gehandelt hatte.

Südpteron des Tempels von Apollon

Der Tempel steht auf einer vierstufigen Krepis. Der Stylobat weist Maße von 21.57 x 55.3m auf und das Peristyl besteht aus 6 x 17 monolithischen Säulen, die mit jeweils 16 flachen Kanneluren versehen sind. Die Kolonnade verdoppelt sich an der Front, so dass damit die Ostseite des Gebäudes (die gleichsam die Eingangsseite ist) stark akzentuiert wird. Dieses Merkmal, das etwas später auch am zweiten großen dorischen Bau in Syrakus, am Tempel des Olympischen Zeus und kurze Zeit später am Tempel C von Selinunt, am Tempel AII und gewissermaßen auch am Tempel B von Metapont auftaucht, stellt den ersten wichtigen Unterschied zum späteren dorischen System dar. Der Pronaos mit seinen zwei Säulen in antis führt zu einer tiefen und schmalen Cella, die durch zwei Säulenreihen in drei Schiffe gegliedert ist und in einem Adyton endet. Es gibt keinen Opisthodom, und diese Disposition, die übrigens an manch anderem Tempel in Sizilien und Süditalien wiederholt wird, kann durchaus als zweite „Abweichung“ von der späteren dorischen Norm bezeichnet werden. Die Säulen des Peristyls erscheinen kurz und dick, ihre Höhe beträgt fast sieben Meter, ihre Proportion entspricht einem Verhältnis 1:4. Der von ihrer gedrungenen Form entstehende Eindruck wird von ihrer dichten Aufstellung verstärkt: die Säulenabstände der Langseiten sind zuweilen enger als der Säulendurchmesser. Das Peristyl insgesamt verrät sicherlich einen gewissen Mangel an technischer und gestalterischer Versiertheit in der Bearbeitung und im Arrangement freistehender, steinerner, stabförmiger Elemente als vertikale Last tragende Glieder der Konstruktion. Mit dieser Technik hatten die Griechen bis dahin, wenn überhaupt, so doch sehr geringe Erfahrung. Andere Merkmale der äußeren Form des Bauwerks sind nicht weniger auffällig. Das mittlere Interkolumnium der hexastylen Front des Tempels ist breiter als die seitlichen. Am Fries entspricht der Rhythmus, nach dem sich Triglyphen und Metopen abwechseln, nicht dem Rhythmus der Säulenstellung. Die Achsen der Triglyphen stimmen mit denjenigen der Säulen nicht überein. Dieses Merkmal wird an den Langseiten noch extremer, denn hier werden am Fries ein Triglyph und eine Metope schlechterdings weggelassen, so dass das arithmetische Verhältnis zwischen Säule und Triglyph (1:2) nicht mehr verwirklicht werden kann. All das läuft natürlich dem dorischen Code zuwider.     

Der Charakter dieser Eigentümlichkeiten kann erst erkannt werden, wenn das Bauwerk innerhalb seines architektonisch/historischen Umfeldes betrachtet wird, obwohl dies aufgrund der noch unsicheren Datierung des Tempels nicht immer leichtfällt.(5) Denn es steht zwar fest, dass er im frühen 6. Jahrhundert entstand, es kann aber nicht mit Sicherheit gesagt werden, was dem Apolltempel unmittelbar vorangegangen war und was ihm unmittelbar folgte. So sind auch keine Schlussfolgerungen darüber möglich, welche Elemente an diesem Tempel Fortsetzung vorgängiger Beispiele waren und welche als wirkliche Neuerungen einzustufen sind. Der Apollotempel von Syrakus wird oft mit dem wahrscheinlich etwas älteren Artemistempel von Korfu in Verbindung gebracht, der wohl als ältester aus Stein errichteter dorischer Ringhallentempel auf griechischem Boden angesehen werden darf. Die beiden Bauwerke weisen in der Tat gewisse Ähnlichkeiten auf. Ihre Grundrisse haben etwa die gleiche Größenordnung. Die Säulen des korfiotischen Tempels sind ebenfalls gedrungen, obwohl sie sichtlich kürzer als diejenigen des Tempels von Syrakus sind. Ihre Proportion (1:5) macht sie aber deutlich schlanker als jene. Geison und Sima tragen bei beiden polychromen Terrakottaschmuck. Vorhanden ist aber auch eine Reihe von nicht unwesentlichen Unterschieden; der offensichtlichste besteht darin, dass den acht Säulen der Frontansicht des Artemistempels nur sechs des Syrakuser Tempels gegenüberstehen. Eins der markantesten Merkmale des Artemistempels ist die außergewöhnliche Breite des Pteron, die große Distanz zwischen Kolonnade und Cella.(6) Dieses Element taucht auch in Altsizilien auf (Selinunt, Tempel GT) auf, nicht aber am Apolltempel von Syrakus.   

Korfu (oben), Ortygia (unten)

Die Tempel von Korfu und Syrakus verbindet nicht allein die zeitliche Nähe, sondern auch die politische. Die Städte, in denen sie standen, waren Kolonien Korinths und beide wurden im selben Jahr 734 v. u. Z. gegründet. Die Frage, ob es über die politischen Fäden hinaus auch architektonische Verbindungslinien zwischen den Neugründungen und der gemeinsamen Mutterstadt gibt, wäre also gerechtfertigt. Eine architektonische Vorgängerrolle Korinths hinsichtlich der beiden Tempel lässt sich allerdings kaum belegen. Der erste, im frühen 7. Jahrhundert errichtete Apolltempel in Korinth und andere Bauwerke innerhalb der Stadt oder um Korinth herum, v.a. der Poseidontempel in Isthmia (ca. 650),(7) können aufgrund des zu ihrer Errichtung (neben Holz) verwendeten Steinmaterials als die ersten Beispiele einer genuinen Monumentalarchitektur in Griechenland angesehen werden. Trotz gegenteiliger Behauptungen bedeutet dies aber keineswegs, dass diese Bauwerke gleichsam Erstformulierungen des dorischen Systems gewesen waren, das dann von den Kolonien übernommen wurde. Der archäologische Bestand in Korinth und Isthmia scheint es auszuschließen. Da ist aber noch der sehr wahrscheinlich um 630-620 v. u. Z. entstandene Bau C (Apolltempel) in Thermos/Ätolien, der gewissermaßen dem Einflussbereich Korinths zugerechnet werden könnte, da er vermutlich von korinthischen Bauleuten errichtet wurde. Es wird allgemein angenommen, dass dieser Tempel über eine Peristasis verfügte. Sowohl die hölzernen Säulen als auch das hölzerne Gebälk sind uns nicht erhalten geblieben. Jeder Versuch, auch in diesem Fall eine Vorgängerfunktion hinsichtlich Korfu und Syrakus zu postulieren, stößt allein schon aus praktischen Gründen auf unüberwindliche Schwierigkeiten, denn abgesehen vom mutmaßlichen Steinfundament der Säulen bestehen die einzig erhaltenen Elemente des archaischen Tempels aus Dachziegeln, Antefixen, Teilen der Sima und zehn polychromen Terrakottaplatten, die vielleicht, aber doch nicht sicher zur Dekoration der Gebälkstruktur über den Säulen dienten. Bei Rekonstruktionen des Gebälks werden diese Platten in der Regel als Metopen gedeutet. Ob diese Vermutung jedoch stichhaltig ist, ist eine andere Frage. (8)

Angesichts dieser Sachlage wäre es vielleicht sinnvoller, die Hypothese einer korinthischen Vorgängerrolle aufzugeben, und die These Mertens’ zu akzeptieren, nach der wir es im Falle des Tempels von Ortygia/Syrakus mit einer „Erstlösung“ zu tun haben.

Andererseits wäre aber auch unangebracht, die Rolle Korinths auf die eines einfachen (und dazu noch höchst unsicheren) Lieferanten architektonischer Lösungen zu verkürzen. In archaischer Zeit war Korinth ein wichtiges politisches Zentrum, das zudem als eine Art den Westen mit dem Osten verbindender Knotenpunkt fungierte. Seine beiden Häfen, Lechaion am Korinthischen und Kenchreai am Saronischen Golf und der Diolkos, die unter dem Tyrannen Periander gebaute gepflasterte Straße, auf der Schiffe entlang des Isthmus transportiert werden konnten, bringen die Rolle Korinths als Transferzentrum zwischen den Meeren bis zur ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts nahezu symbolisch zum Ausdruck. Die Ausbreitung Korinthischer Keramik, die einen geographischen Raum umspannte, der sich vom Schwarzen Meer bis zum nordafrikanischen Naukratis und von der kleinasiatischen Küste und dem syrischen Al Mina bis zur Iberischen Halbinsel ausstreckte, ist ein weiteres Indiz der korinthischen Agilität. (9) Nahe liegend ist die Annahme, dass dieser Geist archaischer Weltgewandtheit von der Mutterpolis auf die korinthischen Kolonien übergriff. Genau unter diesem Gesichtspunkt verdienen gewisse Elemente des ortygischen Apolltempels besondere Aufmerksamkeit.

Bei dessen Beschreibung führt Dinsmoor gewisse „Abweichungen“ von der ‚reifen‘ dorischen Ordnung auf Einflüsse von bzw. Anleihen aus dem „ionischen System“ zurück. Die Doppelkolonnade der Ostpartie des Bauwerks verrät nach Dinsmoor – wenn auch in einem bescheideneren Maßstab – etwas vom Geist der grandiosen ionischen Dipteroi der östlichen Ägäis und der kleinasiatischen Küste. Sogar die Abwesenheit eines Opisthodoms und die Weitung des mittleren Interkolumniums der Frontansicht hält er für ionische Einflüsse. Man könnte dieser Bestandsaufnahme mühelos zwei weitere Elemente hinzufügen: Die Streckung des Tempels im Sinne der Ost-West-Achse und die fehlende Korrespondenz zwischen den Rhythmen des Frieses und der Kolonnade. Wenn letzteres Element nicht als eine handwerklich etwas ungehobelte Übertragung einer vermeintlichen protodorischen Holzkonstruktion auf die Steinbauweise gedeutet wird, kann sie durchaus als strukturelle Diskontinuität zwischen Kolonnade und Fries beschrieben werden, womit die ionische Beeinflussung hier erneut bestätigt wäre. Dinsmoor erläutert, dass beim Apolltempel das Samische Heraion womöglich als „direkte Inspirationsquelle“ gedient haben könnte und meint wohl damit den Tempel von Rhoikos und Theodoros, die erste vollständige Verwirklichung der ionischen Monumentalarchitektur. Doch auch hier fällt die Bestätigung einer unmittelbaren Verbindung schwer, denn es ist kaum möglich zu sagen, welcher dieser etwa zeitgleich entstandenen beiden Tempel dem andern tatsächlich vorangegangen war. Die Sache wird noch schwieriger, wenn man die kritischen Unterschiede zwischen den beiden Strukturen in Betracht zieht, wobei diejenige des Maßstabs die auffälligste ist – der Heraion-Grundriss besitzt die doppelte Größe desjenigen des Tempels von Syrakus. Hinzu kommen Unterschiede der Proportion, der Typologie der Grundrisse usw. Die These, Syrakus hätte Samos nachgeahmt, ist also etwas zu gewagt. Wenn man jedoch das chronologische Argument beiseiteschiebt, würde die Fülle der ionisierenden Elemente des Tempels von Syrakus durchaus erlauben, einen Geist interaktiven Handelns über geographische Grenzen hinweg anzunehmen, der in beiden Landschaften, in Sizilien und in der Ostägäis wirksam war. Und derselbe Geist ist auch im Artemision von Korfu vorzufinden, das genauso wie das Heraion von Samos oktastyl war und dessen Pteron eine Weiträumigkeit besaß, die den Tempel in die Nähe des ionischen Dipteros brachte.         

Diese Beobachtungen reichen aus, um ein etwas differenzierteres Licht auf die Geographie der griechischen Architektur zu werfen. Νach konventioneller Lesart, die auf Vitruv zurückgeht, sind die dorische und ionische Ordnung als zwei geographisch distinkte architektonische Beiträge zu verstehen. Dabei wird die dorische Ordnung im griechischen Mutterland verortet, während Kleinasien und die ägäischen Inseln als Nährboden der ionischen gelten. Der Apolltempel in Ortygia zwingt aber zur Revision dieser Geographie, da sich in ihm die zwei Hauptvarianten griechischer Tempelarchitektur zu überlappen und zu verschmelzen scheinen und das ist sicherlich nicht auf eine (post-moderne) Operation der Doppelkodierung zurückzuführen.

In der Entstehungszeit der ersten Peripteraltempel aus Stein hatten die Griechen die Erfahrung der großen Kolonisationswelle des 8. Jahrhunderts hinter sich und ebenso hatten sie ihre Phobien vis-à-vis der Welt jenseits der griechischen Westküste längst überwunden. Dasselbe galt mutatis mutandis im Falle der Kolonien, deren unmittelbar umgebende Welt, das Mittelmeer, deutlich kleiner war als diejenige, die Homer in der Odyssee beschrieben hatte. Sie muss im Bewusstsein der Griechen eher jenes Ausmaß besessen haben, das ihr zwei Jahrhunderte später Sokrates zuwies: (10)

Dann (habe ich) auch (angenommen), dass sie (die Erde) sehr groß sei und dass wir, die vom Phasis bis an die Säulen des Herakles reichen, nur an einem sehr kleinen Teile, wie Ameisen oder Frösche um einen Sumpf, so wir um das Meer herum wohnen, viele andere aber anderwärts an vielen solchen Orten.

Anmerkungen

1 Die (textlich restaurierte) Inschrift ließe sich folgendermaßen übersetzen: „Kleomenes, Sohn des Knidieides, machte dies für Apollo und fügte ihm Säulen an. Es sind schöne Werke.“ Die Identität und die Zuständigkeit des Kleomenes wird nicht offengelegt. War er Tyrann von Syrakus, der die Errichtung des Tempels anordnete, war er Geldgeber des Bauwerks, dessen Aufseher oder dessen Architekt? Der Verweis auf die Säulen macht die letzte Variante wahrscheinlicher. Vgl.: R. Ross Holloway. The Archaeology of Ancient Sicily. London & New York: Routledge, 2000 (1991), S.73.

2 William Bell Dinsmoor, The Architecture of Ancient Greece – An Account of its Historic Development. London & Sydney: B. T. Batsford, 1950 (1902), S.73-78.

3 Gottfried Gruben, Griechische Tempel und Heiligtümer. München: Hirmer, 2001 (1966), S. 286-290.

4 Dieter Mertens, Städte und Bauten der Westgriechen – Von der Kolonisationszeit bis zur Krise um 400 vor Christus. München: Hirmer, 2006, S.104f.

5 Dieter Mertens, Die Entstehung des Säulentempels in Sizilien, in: Ernst-Ludwig Schwandner (Hg.). Säule und Gebälk – Zu Struktur und Wandlungsprozess griechisch-römischer Architektur. Mainz: Philip von Zabern, 1996, S .25-38.

6 Der Artemistempel – Architektur, Dachterrakotten, Inschriften. Bearbeitet von Hans Schleif, Konstantinos A. Rhomaios, Günther Klaffenbach. Berlin: Gebr. Mann, 1940. Die vorhandenen Fundamente lassen keine Rückschlüsse darüber zu, ob der Tempel über einen Opisthodom verfügte (vgl.: S. 19).

7 Robin F. Rhodes, Early Corinthian Architecture and the Origin of the Doric Order, in: AJA 91 (1987), S. 477-480. Die umstrittene ‘dorische’ Rekonstruktion des isthmischen Poseidontempels geht auf Oscar Broneer zurück: Oscar Broneer. Isthmia. Vol. I – Temple of Poseidon, Princeton, N.J., 1971.

8 Für eine Rekonstruktion der mutmaßlichen Holzkonstruktion des Thermos-Tempels siehe z.B.: Immo Beyer, Der Triglyphenfries von Thermos C – Ein Konstruktionsvorschlag, AA 87 (1972), S. 197-236.

9 Vgl.: J. B. Salmon. Wealthy Corinth – A History of the City to 338 BC. Oxford: Clarendon Press, 1984.

10 Platon, Phaidon (Friedrich Schleiermacher).

Fotos: SG, Grundrisse: SG/Gujber

MASKEN, ALLTÄGLICH UND EXTRAORDINÄR

AHA: die Abkürzung steht bekanntlich für die drei Corona-Gebote, (1) Abstand, (2) Hygiene, (3) Alltagsmaske. Bei (1) und (2) ist die Assoziation zwischen Abbreviatur und Wort recht einfach, beim Buchstaben (3) muss man jedoch zwei- bis dreimal um die Ecke gehen, um – falls dies überhaupt gelingt – auf das damit Abgekürzte zu stoßen. AHA sollte das Memorieren erleichtern, realiter wird aber damit das genaue Gegenteil davon erreicht. Selbst nach des Rätsels Lösung tauchen andere schwerwiegende semantische Probleme auf: wieso denn Alltagsmaske? Muss (oder darf) sie etwa bei Sonn- oder Feiertagen, in den Ferien oder zu außerordentlichen Anlässen nicht mehr getragen werden.? Alles in allem, von den drei Geboten ist das dritte das deutungsschwierigste. Das zeigt sich nicht so sehr in der Maskenpflichtverweigerung, in der Nasendemaskierungspraxis und in der Unterkinnmaskierungspraxis, denen man sich der Bequemlichkeit halber leichtsinnig hingibt, sondern hat tiefere Ursachen.    

Maske, sagen die Lexika, ist ein aus dem Arabischen übernommenes Wort – „maskharat“ –, das einen speziell zur Bedeckung des Gesichts oder eines Teils davon hergestellten Gegenstand bezeichnet, der dazu dient, dessen Gestalt so zu verändern, dass es nicht mehr erkennbar ist. Die Griechen verwendeten dafür das Wort προσωπείον (prosōpeion), seltener προσωπίς (prosōpis), beides Ableitungen aus πρόσωπον (prosōpon), einem Wort, das sich als  Gesicht, Angesicht oder Antlitz übersetzen lässt, seit Homer aber, d.h. seit dem 8. Jh. v. Chr. auch die Person bezeichnet. Πρόσωπον wäre demnach die Person, die man ist; προσωπείον, Maske oder Larve, entspräche der Rolle, die jemand spielt, die Person, die sie oder er im Privaten, aber v.a. in der Öffentlichkeit präsentiert oder darstellt. Die Maske ist also stets eingebunden in performative Akte. Pindar, der lyrische antike Dichter, der an der Wende vom 6. zum 5. Jh. v. Chr. lebte, verwendete das Wort προσωπείον (prosōpeion), Maske oder Larve, zudem, um den äußeren Glanz, die Pracht, den Schimmer, die Würde und den Anstand zu bezeichnen, sofern diese Eigenschaften ins Auge fielen. Masken wurden zunächst auf religiösen Festen verwendet. So sind etwa rituelle Tänze zu Ehren von Göttern und Göttinnen überliefert, deren Beteiligte Masken trugen. Dann kam das Theater, das tragische wie das komische, wo man der jeweiligen Gattung entsprechend maskiert auftrat. Vilem Flusser erinnert uns an römische Theatermasken, die wie Lautsprecher gebaut waren, durch die das Sprechen in den Raum tönte und daher persona hießen (abgeleitet von personare = hindurchtönen). 

Seit der Antike hat das Wort – oder vielmehr der Gegenstand – eine beachtliche Karriere hinterlegt. Heute gibt es über die überlieferten Verwendungsweisen hinaus Sauerstoffmasken, Tauchermasken, Schutzmasken aller Art, kosmetische Masken, chirurgische Masken bis zu Automasken, Schiffsmasken und viele andere mehr; nicht zu vergessen die metaphorische Verwendung: „sie versteckte ihre Angst hinter einer Maske von Gleichgültigkeit…“  oder „er versteckte sich hinter einer Maske von Regungslosigkeit“ – eine bei Pokerspielern typische Eigenschaft.

Ein besonders prominenter Anlass der Maskierung ist der Karneval, einer Maskierung, die oft begleitet wird von der Kostümierung des gesamten Körpers. In diesem Fall ist nicht nur die einzelne Person, sondern die ganze Festgemeinschaft betroffen. Was für merkwürdige Dinge als Folge der Maskierung/Kostümierung in einem solchen Rahmen passieren, hat niemand besser beschrieben als der russische Literaturwissenschaftler und Philosoph, Michail Bachtin: „Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe“, schrieb Bachtin, „ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer. Im Karneval sind alle Teilnehmer aktiv, ist jedermann handelnde Person. Dem Karneval wird nicht zugeschaut, streng genommen wird er aber auch nicht vorgespielt. Der Karneval wird gelebt – nach besonderen Gesetzen und solange diese Gesetze in Kraft bleiben. Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt. Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt. Das betrifft vor allem die hierarchische Ordnung und alle aus ihr erwachsenden Formen der Furcht, Ehrfurcht, Pietät und Etikette, das heißt: alles was durch die sozialhierarchische und jede andere Ungleichheit der Menschen, einschließlich der altersmäßigen, geprägt wird“ (1965). Eine geradezu emanzipatorische Funktion wird hier dem Karneval zugesprochen, die modellhaft eine andere Welt und ein anderes, freies, von menschlicher Nähe und Freundschaft gekennzeichnetes Leben verwirklicht. Ohne Maskierung wäre dieses Leben kaum denkbar gewesen.

Der größte Karnevalsenthusiast und Maskenanbeter auf dem Gebiet der Architektur war der deutsche Architekt des 19. Jahrhunderts Gottfried Semper.  „[… ] das Bekleiden und Maskieren [ist] so alt wie die menschliche Civilisation“, schrieb er in seinem Buch Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (1860, 1863), „und die Freude an beidem [ist] mit der Freude an demjenigen Thun, was die Menschen zu Bildnern, Malern, Architekten, Dichtern, Musikern, Dramatikern, kurz zu Künstlern machte, identisch. Jedes Kunstschaffen einerseits, jeder Kunstgenuss andererseits, setzt eine gewisse Faschingslaune voraus, um mich modern auszudrücken, – der Karnevalskerzendunst ist die wahre Atmosphäre der Kunst“ (Der Stil, I/231). Interessant ist hier, dass Semper das Bekleiden und das Maskieren in einem Atemzug nennt – in architektonischen Begriffen bedeutet dies, dass die Gebäudehülle nicht allein die Funktion der Raumabschließung – der Scheidung von innen und außen – zu  erfüllen hat , sondern überdies die genauso wichtige Aufgabe, das  individuelle Bauwerk, die Architekturperson in der Öffentlichkeit vorzustellen, um mit Pindar zu sprechen, die Pracht, die Würde und den Anstand des Gegenstands sichtbar zu machen. Das hat die Architektur immer so gemacht, sie hat Masken benutzt, um Ideen auszudrücken, die über die materielle und formale Organisation eines Gebäudes hinausgingen, sie hat Masken benutzt um ihre tektonische Struktur nach außen hin sichtbar zu machen oder eine solche nur vorzutäuschen, sie hat Masken benutzt, um  die spezifische Aufgabe, den Zweck, dem das Bauwerk jeweils zu dienen hatte, sichtbar zu machen, vorzustellen usw. Sie hat mit ihren Masken veranschaulicht, erklärt, getäuscht, verführt und das tut sie im Großen und Ganzen immer noch. Mit anderen Worten, die Architektur hat mittels ihrer multiplen Masken stets ihre Zuständigkeit in der Öffentlichkeit, im öffentlichen Raum bekräftigt.  

Wie stellen sich aber die Dinge hinsichtlich der Masken heutzutage dar?

Will man eine aktuelle Maskendiagnostik durchführen, so ist man gut beraten, eine besondere Kategorie der Maskennutzung unter die Lupe zu nehmen.  Es ist kein Geheimnis, dass für das Handeln von Individuen, deren Lebensweg vom durch die jeweilige Konvention festgelegten rechten Pfad der Tugend abwich, Masken stets ein wichtiges operatives Utensil waren. Auch heute ist das so geblieben. Dabei erfährt man, dass moderne Einbrecher, Räuber, Diebe, Kidnapper, Brandstifter, Plünderer beiderlei Geschlechts eine besondere Vorliebe für maßgefertigte Masken haben. Dies hat funktionelle Vorteile – die Maske sitzt besser –, ist aber auch verknüpft mit dem gesamtkulturellen Trend der Mass Customization.  Die Technik zur Herstellung solcher Masken, die bislang auf Gipsbasis standen, und Totenmasken sehr ähnelten, war zwar nicht besonders kompliziert, aber doch recht umständlich, da vor allem während der ganzen Prozedur, die immerhin mehrere Minuten dauerte, das Gesicht reglos bleiben musste (bis der Gipsbrei mit dem es beschmiert war, trocknete). Heute hat sich die Maskenherstellungstechnik enorm verbessert. Mit dem Einsatz elektronischer Technologie kann man das Gesicht innerhalb kürzester Zeit – 0,2 Sekunden – mit größter Präzision – 300.000 Einzelmesspunkte – scannen.  Mit der Hilfe von 3D Modeling Software bekommt man daraus eine dreidimensionale mathematische  Darstellung des Gesichts, die man dann mit einem 3D Printer als dreidimensionales physisches Objekt  je nachdem als Positiv- oder Negativform erzeugen kann. Die Vorteile gegenüber dem konventionellen Verfahren liegen in der Schnelligkeit der Aufnahme, die einen praktisch unbewegten Zustand des Gesichts erlaubt und in der Vermeidung des physischen Kontakts mit der Gesichtsoberfläche und damit aller dadurch verursachter Probleme. Außerdem ist dieses Verfahren weit komfortabler für den/die Kund*in. Nun, das sind zunächst die guten Nachrichten für unsere Delinquenten. Problematisch, sehr problematisch sogar wird die Sache, wenn die Verfolgungsinstanz in den Besitz der Maske gerät oder des Template des Gesichts, das sehr wahrscheinlich als Datei im Computer des/der Maskenbildner*in gespeichert ist. Mit der geeigneten Software lässt sich nämlich dieses Template mit tausenden Gesichtsbildern, die sich in den behördlichen Datenbanken befinden, in Sekundenschnelle vergleichen. Es reicht auch nur, wenn die Behörden über einige biometrische Daten der betreffenden Person verfügen, um deren Identität mit großer Präzision festzustellen. Und das tun sie unter dem Kontrollregime, auf dem heutige Macht aufbaut, potenziell bei jedem Sterblichen.  Wenn überdies die Behörde in den Besitz der Maske selbst gelangt und sich darauf Spuren organischer Substanz finden, kann sie durch DNA-Analyse die Identifizierung der Person doppelt bestätigen – zwei positive Matches statt eines. Mit anderen Worten: die Maske hat sich aus einem Instrument des Verbergens, des Versteckens, der Unkenntlichmachung der Identität des/der Maskenträger*in in ein Instrument der vollkommenen Transparenz, d.h. in ihr absolutes Gegenteil verwandelt. Dafür sind viele Faktoren verantwortlich: der umfangreiche Einsatz entwickelter elektronischer Technologien, die Fortschritte biogenetischer Forschung, der kulturelle Trend der Mass Costumization, ein Staat der primär auf Kontrolle statt auf Disziplin setzt und seine Behörden apparativ und personell entsprechend ausstattet.

Theatermasken, Karnevalsmasken und Masken der Delinquenz sind ohne jeden Zweifel extraordinäre Masken. Unterwegs zu den alltäglichen stößt man jedoch auf weitere Masken, deren kategoriale Zuordnung nicht so leichtfällt. Dazu gehört die religiös begründete Vollverschleierung, wie sie bei Burka bzw. Nikab Trägerinnen in Erscheinung tritt. Bei ersterer ist nur ein kleiner Teil des Gesichts um die Augen herum durch ein in den Stoff eingearbeitetes Sichtgitter vage zu erkennen, während bei der zweiten nur die Augen der Person unverhüllt zu sehen sind. Mehrfach erschien für einen großen Teil der Bevölkerung, der öffentlichen Meinung und der Politik diese Bekleidungsform und ganz besonders, die Art und Weise, auf die das Gesicht verdeckt bzw. maskiert wurde trotz der Seltenheit ihres Vorkommens als Skandalon. ‚Bei uns begegnet man sich mit offenem Gesicht‘, war oft zu hören. ‚Bei uns‘: damit war das ‚Abendland‘ explizit oder implizit gemeint, dessen Untergang im Falle der Tolerierung dieser vermeintlichen Monstrosität gewittert wurde. Es wurden Verbote des öffentlichen Erscheinens in diesem Outfit angedroht und teilweise auch ausgesprochen. Seit einigen Monaten ist aber der Aufschrei, hinter dem sich oft pure Islamophobie verbarg, ganz plötzlich verstummt: Der Grund dafür ist ganz einfach: Burka und Nikab sind AHA-konform! Das gesamte Abendland (und nicht nur) darf nicht nur, es muss sich (sogar unter Androhung von Strafen bei Nicht-Compliance) maskieren, im Prinzip wie Burka oder Nikab tragende Frauen. Auch das Verbot des Händedrucks als Begrüßungsform zwischen Frauen und Männern in manchen islamischen Kontexten ist übrigens mittlerweile ebenso AHA-konform und daher geboten – Abstand! Und zwar generell – d.h. unabhängig vom jeweiligen Geschlecht der sich Begrüßenden. Ähnlich verhält es sich mit einer anderen Form der Transition von extraordinären zu gewöhnlichen Masken. Ältere werden sich an die leidenschaftlichen Debatten um das Vermummungsverbot Mitte der 1980er Jahre erinnern. Das entsprechende Gesetz, das die Vermummung unter bestimmten Bedingungen als Straftat definierte, konnte nur mit den Stimmen der damaligen Koalition aus Union und Liberalen vom Parlament verabschiedet werden. Die Praxis der (strafbaren) Vermummung war und ist dabei bei einem winzig kleinen Segment des politischen Spektrums beliebt und vorfindbar – man nennt diese Leute ‚die Autonomen‘. Die Frage, inwiefern daraus eine ernsthafte „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ ausgehen könnte, sei hingestellt. Jedenfalls ist heutzutage Autonomie [zumindest was (1) angeht] auch AHA-Konform, ist das Maskierungsgebot heute, in Zeiten der zweiten Corona-Welle, generell, in allen Lebenslagen und Situationen, sobald man die eigenen vier Wände verlassen hat.

Bleibt abzuwarten, was uns die Post-Corona-Zeit hinsichtlich Maskierung bescheren wird, v.a. wie sich moderne Kreuzfahrer und Law-and-Order-Neurotiker verhalten werden. Die Architektur gibt womöglich einen nützlichen Fingerzeig zu einem produktiveren Umgang mit Masken, alltäglichen und extraordinären gleichermaßen.