Das Fondue und das Kamel

Fondue ist das bekannte, in der Westschweiz sehr beliebte Gericht, bei dem an langen Gabeln befestigte Brotwürfel in geschmolzenem Käse getunkt werden, um dann wieder aus der zähflüssigen Masse zum Verzehr herausgezogen zu werden. Der Vorgang bedarf einer gewissen Übung, denn beim Herausziehen des Spießes aus dem auf einem Tischkocher ruhenden Käsetopf  kommt es immer darauf an, die Gabel so zu drehen, dass einerseits der Überzug am Brot haften bleibt, während gleichzeitg das Stück von der Käsemasse abgetrennt wird. Besitzt man selber oder seine Tischgenossen – denn Fondue ist ein Geselligkeitsgericht – diese Geschicklichkeit nicht und erfolgt die Abtrennung von der Käsemasse nicht oder nicht rechtzeitig genug, so besteht die Gefahr, dass sich der Käse spinnennetzartig den Topf mit verlässt und sich im ganzen Raum ausbreitet (interessante Bilder, die diesen Vorgang illustrieren, finden sich in Uderzos und Goscinnys Asterix bei den Schweizern – 1973 [1970]). Wenn wir nun von Fondue sprechen, so meinen wir einerseits die Formlosigkeit der Käsemasse und andererseits die chaotische Weise ihrer Ausdehnung, sobald man die Kontrolle über sie verliert oder sobald der entsprechende Algorithmus anfängt, scheinbar verrückt zu spielen.

Das Kamel ist einem Zitat von Sir Alec Issigonis entnommen. Der griechisch-britische Designer des legendären Mini Anfang der sechziger Jahre sagte einmal. „A camel is a horse designed by a committe“ (Das Kamel ist ein von einem Komitee entworfenes Pferd). Er wollte damit auf die unersetzliche Rolle des Entwerfers im Designprozess aufmerksam machen, auf dessen auktorialen Status, auf die Fähigkeit des allwissenden Autors mithin, als Einzelner die Welt in Schönheit, Eleganz und Harmonie neu zu erschaffen. Wird diese Rolle hingegen kollektiv ausgeübt, das suggerierte der inzwischen berühmte Aphorismus, so oszilliert das Ergebnis zwischen Banalität und Monstrosität. Unter uns: so banal und so monströs ist das Kamel gar nicht. Die ideale Balance zwischen Ausdauer und Widerspenstigkeit, die das Tier mitbringt, verleiht ihm eine beneidenswerte Zweckmäßigkeit, während sein vermeintlich dysmorphes Aussehen manchmal von hinreißender, absolut einnehmender  Komik ist. Der Formvollendung des Pferdes wird man hingegen schnell überdrüssig. Das Pferd ist, mit anderen Worten, langweilig, das Kamel großes Theater.

2011 erschien in der Reihe Architecture Words, die der Direktor der Londoner Architectural Association herausgibt, ein kleines Buch mit dem Titel Projectiles. Dessen Verfasser ist Bernard Cache, der französische Architekt und Designer, der für viele als Guru der digitalen Wende in der Architektur in den 1990er Jahren gilt. In einem in Projectiles aufgenommen Text notiert Bernard Cache nun: „Ein Rundgang durch verschiedene Architekturschulen weltweit hinterlässt beim Besucher Gefühle des Zweifels. In diesen Schulen wird die digitale Technologie lediglich im Sinne einer spektakulären Architektur à la Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao verstanden oder als das, was man kurvig-gebrochenen Stil bezeichnen könnte (übersetzt wird hier, etwas ungenau, das wunderbare spanische Wort curviquebrado, das Juan Antonio Ramírez in seinem 1992 erschienenen Buch Art and Architecture in the Epoch of Triumphant Capitalism – Kunst und Architektur im Zeitalter des triumphierenden Kapitalismus – einführte) – im Wesentlichen Blasenformen für Blasenökonomien. Was zunächst nur eine Ausnahmearchitektur sein sollte, wird präsentiert (und von Studierenden gleichsam mit Begeisterung angenommen) als der architektonische Normalfall. Das scheint auf Kosten kultureller und sozialer Faktoren des Städtebaus, ebenso jedes echten Interesses an der Digitalisierung von Konzeption und Ausführung von Architektur zu gehen.“

Was Cache hier bemängelt, scheint die Sache gut zu treffen:  die übermäßige Präsenz an den Hochschulen und – so könnte man hinzufügen – in den Medien einer gewissen Blobs- oder Blasenarchitektur, die in den Neunzigerjahren ansetzte und technisch dem erleichterten Umgang mit Spline-Kurven am Computer zu verdanken war, so dass damit selbst Mathematik-Banausen die Erzeugung gekrümmter, geschmeidiger Oberflächen und komplexer dreidimensionaler Gebilde gelang, die mit den herkömmlichen Zeichenwerkzeugen gar nicht möglich gewesen wären. Kulturell ist dieser Trend, der den Einzug des Digitalen in seine parametrische Phase, den sogenannten „parametric style“ (Schumacher) überlebte, auf einen Hang zum Informellen – daher das Fondue unseres Titels – zurückzuführen, der wahrscheinlich seine Wurzeln in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hat. Cache meint, hierbei handele es sich nur um eine Ausnahmearchitektur und – so könnte man hinzufügen – um eine Architektur, die zumeist den Maßstab eines inzwischen ebenfalls digital fabrizierten dreidimensionalen Modells nicht übersteigt. Manche Kritiker meinen, dass solche Ansätze, die den Nachdruck auf Formgenerierung/Formfindung setzen, an ihre Grenzen bereits gestoßen sind, indem ein Thema zwar in vielen Varianten durchgespielt, aber doch im Kern unverändert wiederholt wird. Eine Dynamik sei darin nicht zu erkennen. Das mag so zutreffen oder nicht, doch was an Caches Kritik vielleicht noch mehr als der Vorwurf der Kurvenmonokultur wiegt, ist die Feststellung, dass gerade sie zur Vernachlässigung anderer Elemente im architektonischen Dispositiv führt. Er spricht „kulturelle und soziale Aspekte des Städtebaus“ an. Man könnte den Befund  noch weiter fassen und sagen: was aus dem Horizont zu fehlen scheint, ist der Alltag. Und dieser Alltag ist vor allem die Menge der Architekturnutzer. Man kann sie natürlich als passive Empfänger von Architekturleistungen ansehen und entsprechend agieren. Die echte Herausforderung aber, die unserer digitalen Kultur entspringt, ist, dass sie die Möglichkeit eines massiven  Abbaus der Schranken zwischen Erzeuger und Nutzer denkbar macht. Das magische Wort ist hier Web 2.0, das dem Grundsatz hierarchiefreier Kommunikation und Partizipation unter gleichberechtigten Akteuren folgt oder folgen sollte. Mario Capro, ein Architekturtheoretiker, der sich intensiv mit dem Digitalen befasst, stellt zu Recht die Frage: Weswegen hat die Architektur den Sprung ins Web 2.0 nie versucht? Er sucht die Antwort in unserer Parabel vom Pferd und vom Kamel. Der Architekt ist so prädisponiert, dass er alles, was er als Bedrohung seiner exklusiven Autorschaft wahrnimmt  von vorherein ablehnt. Aber das gerade  passiert im Web 2.0: breit gestreute Autorschaft und nutzergenerierte Inhalte. Dabei, so stellt Carpo fest, sei die exklusive Autorschaft eine vom Architekten – zumindest partiell – längst aufgegebene Sache. So hat der digital entwerfende Autor-Architekt zwar die Kontrolle des von ihm erstellten Skripts, nicht aber die Kontrolle der Varianten, die daraus algorithmisch erzeugt werden. D.h. digitale Werkzeuge führen notgedrungen zu einer gewissen Abgabe an Souveränität von Seiten des Architekten an die Maschine. Und genau dasselbe trifft bei anderen Fällen  von Computeranwendungen zu, bei denen es nicht primär um Formgenerierung sondern etwa um technische Optimierung geht. Beim Ansatz z.B., nach dem digital gesteuerte Feedbackprozesse  mit der Umwelt zu einer ebenfalls digitalen Selbst-Selektion der performativ optimalen Lösungen – dazu gehört die Theorie der digitalen „Emergenz“ – führen kann, hat der Architekt wesentliche Befugnisse an die Maschine delegiert. Das macht die Verweigerungshaltung gegenüber dem digital fähigen Alltag noch paradoxer.

Manche sagen: die Architektur befand sich vor zwanzig Jahren an der vordersten Front der digitalen Wende (wobei unter uns selbst dieser Anspruch mächtig übertrieben ist), heute läuft sie ihr hinterher.

© Sokratis Georgiadis, 2015

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s