Programm und Verbrechen

Anlässlich der Verleihung im Jahre 1957 der höchsten Auszeichnung des Royal Institute of British Architects, des Gold Medal, an seine Person hielt der Architekt, Architekturhistoriker und langjähriger Kurator des John Soane Museums in London, Sir John Summerson, eine Rede am Institut mit dem Titel „The Case for a Theory of Modern Architecture“(1) oder „Für eine Theorie der modernen Architektur“. Darin stellte Summerson die Frage, welcher Begriff es sei, der den theoretischen Standpunkt der modernen Architektur am trefflichsten bezeichne, und kam zu dem Schluss, dass im Unterschied zu früheren Auffassungen, in denen die „Form“ im Mittelpunkt des architektonischen Interesses stand, der Begriff „Programm“ es sei, der als der Dreh- und Angelpunkt des Diskurses der modernen Architektur erkannt werden könne. Unter Programm verstand Summerson v.a. jenes Element, mit welchem die moderne Architektur das soziale Feld betreten, in ihm auftreten und sich darin behaupten könne und definierte den Begriff folgendermaßen: „A programme is a description of the spatial dimensions, spatial relationships and other physical conditions required for the convenient performance of specific functions“ („Ein Programm ist eine Beschreibung der räumlichen Dimensionen, der räumlichen Beziehungen und anderer physischer Bedingungen, die erforderlich sind, um spezifische Funktionen auf angemessene Weise zu erfüllen“). Für die Moderne, darin hatte Summerson sicherlich Recht, war die Architektur v.a. eine planende Disziplin, wenn Planung „(in) ihrem allgemeinen Sinn (…) eine Methode der Entscheidungsfindung (ist), die Zwecke oder Ziele vorschlägt oder definiert, die Mittel oder die Programme festlegt, die diese Zwecke erfüllen oder vermeintlich erfüllen sollen, und dabei analytische Techniken anwendet, um die für die verfolgten Ziele geeigneten Mittel beziehungsweise die Folgen der Implementierung alternativer Ziele und Mittel zu finden.“(2) Planung ist also etwas der Zukunft Vorausgreifendes und in die Zukunft Weisendes genauso wie das Programm, das schon etymologisch das „Vorangeschriebene“ bedeutet, für die Zukunft etwas vorschreiben, vorbestimmen will. Ins selbe semantische Feld gehört auch das Wort Projekt aus (lat.) proiectum, welches sich wörtlich als das „nach vorn Geworfene“ übersetzen ließe.

Die These von der Dominanz des Programms oder des Projekts in der Architekturtheorie der Moderne ist auch in der Historiographie unangefochten. Antoine Picon datiert ihn in einem neulich publizierten Aufsatz(3) mit guten Gründen auf die Mitte des 18. Jahrhunderts: „Die Motive“, schreibt er, „die diesem Auftauchen des Projekts zugrunde liegen, sind vielschichtig. Elementar verbunden ist es mit dem Imperativ der Nützlichkeit, zugleich aber auch mit einem Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit und Kontrolle, das die Kultur der Aufklärung in hohem Maße charakterisiert.“ Und etwas weiter führt er aus, dass die Vorstellung, die Architektur sei dazu da, um Monumente zu errichten, mit dem Aufkommen des Projekts zurückweicht, in den Hintergrund tritt. Nicht mehr Monumente, sondern Einrichtungen (équipements) sind gefragt. Einrichtungen wie Schulen, Gerichtsgebäude, Börsen, Märkte, also Bauten bei denen der Nützlichkeitsgedanke (der utilitäre Gedanke) im Mittelpunkt steht.

Wie wandte aber die klassische Moderne, auf die sich Summerson in seinem Vortrag bezogen hatte, den Programm-Gedanken an? Vorhin war davon die Rede, dass für die Aufstellung von Programmen, die gewisse Zwecke zu erfüllen haben, der Einsatz von analytischen Techniken notwendig sei. Analytische Techniken haben die Aufgabe, das Objekt, auf das sich das Programm bezieht, den Planungsgegenstand mithin (das kann je nachdem ein Gebäude, eine Nachbarschaft, ein Stadtteil, die Stadt usw. sein) hinlänglich genau zu erfassen und eine Vorstellung von den Mitteln zu entwickeln, die zur Erfüllung des Zwecks geeignet erscheinen.  Wenn Nützlichkeitserwägungen im Mittelpunkt des Programms stehen – wie sie es ja in der Moderne nachweislich tun –, so berühren Entscheidungsfindungsprozesse die soziale Sphäre, vielmehr: sie haben die soziale Sphäre als ihr operatives Bezugsfeld. Die Moderne hat zur analytischen Erfassung eben dieses Feldes zwei Modelle eingesetzt, das organische und das mechanische. Beim ersten Modell hat sie sich zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Theorien bedient, das zweite hatte sie von philosophischen Vorstellungen abgeleitet, die bis ins beginnende 17. Jahrhundert zurück gingen. Die beiden Modelle unterschieden sich (zumindest in der Art und Weise, auf die sie von den modernen Architekten angewandt wurden) wenig, da beide eine Grundeigenschaft teilten: sie waren deterministisch. Was heißt das? Determinismus ist eine Auffassung, die davon ausgeht, dass jedes Ereignis oder jeder Zustand aus einem vorgängigen Ereignis oder Zustand abgeleitet werden kann und zwar auf der Grundlage kausaler, d.h. fester, unveränderlicher Regeln mit universaler Geltung. Nun, das Problem ist, dass dies zwar für die Maschinen des Industriezeitalters gegolten haben mochte, im Falle der organischen Welt aber schon damals ein Irrtum war. Spätestens seit Charles Darwin hätte man wissen können, dass es in der organischen Welt keine Zukunftsplanung gibt, sondern sozusagen nur „Entscheidungen für den Augenblick“; wie Wuketits sagt: „was sich momentan bewährt, das zählt (und tritt häufig auf), anderes stirbt aus“ und das nicht „allein durch ökologischen Raubbau“. Man hat also in der Natur „nicht (…) von vornherein determinierte Entwicklungen, sondern (…) Phänomene, die unter bestimmten Umweltbedingungen auftreten, auf die die betroffenen Lebewesen auch adäquat reagieren können.“(4)

Hier könnte man sicherlich fragend einwenden: O.K., es mag zwar stimmen, dass die Modernisten mit einem (auch für damalige Verhältnisse) überholten – d.h. mit einem deterministischen Organik-Modell operierten. Wäre aber ein deterministisches Modell bei der Aufstellung von Architektur- oder Städtebauprogrammen grundsätzlich abzulehnen? Wie wäre es z.B. mit dem Maschinenmodell? Wäre das keine Alternative? Wie vorhin gesagt, stellte das modernistische Programm utilitäre Ziele in den Mittelpunkt; es hatte die soziale Sphäre als operatives Bezugsfeld. Wie Michael Dear sagt, ist Planung eine Praxis der Macht.(5) Mit anderen Worten, Entscheidungsfindung auf  gesellschaftlichem Terrain ist ein politischer Prozess, in dem oft konträre Wertvorstellungen und Interessen der Beteiligten eine maßgebliche, obwohl nicht immer offensichtliche Rolle spielen. Die Realisierung des Plans ist aber auch ein sozialer Prozess, der selten (wenn überhaupt) von den Absichten des Planers geleitet wird. Der Spalt, der sich zwischen dem Plan oder dem Programm und dessen Ergebnis auftut, hängt von mehreren Faktoren ab. Nach Sztompka sind die wichtigsten davon die Komplexität des zu planenden Systems, die inneren Widersprüche und Konflikte zwischen den Komponenten des Systems, der Einfluss äußerer (z.B. natürlicher) Kräfte und der stochastische Charakter der innersystemischen Beziehungen, v.a. wenn es sich bei diesem System um ein gesellschaftliches handelt (stochastische Beziehungen sind solche, die nur auf Grundlage der Wahrscheinlichkeit oder der Statistik erfasst werden können).(6) Auf eine allgemeinere Ebene gestellt: gesellschaftliche Prozesse, in die nützlichkeitserwägende Architekten planend eingreifen wollen, bestehen aus zwei unterschiedlichen Kategorien von Akten oder Handlungen, aus  spontanen aber auch – und dies in offensichtlichem Gegensatz zu natürlichen Prozessen – intentionalen, d.h. absichtsvollen und zweckorientierten Handlungen (Giddens).(7) Und das macht die Sache ungemein schwierig. Die bisherige Kritik am Modernismus hat sich eher auf die Folgen modernistischer Planungen beschränkt und hat in der Regel das theoretische Terrain gemieden mit der Folge, dass der  Architekturdiskurs weiterhin munter mit organischen oder mechanischen Metaphern, Modellen und Vorstellungen um sich geworfen hat und wirft und dadurch ins Stocken geraten ist und weiterhin gerät. Manche Architekten haben im Gegenzug dazu den Nützlichkeitsgedanken insgesamt über Bord geworfen und geglaubt, dass wenn man nach historisch „bewährter“ Manier wieder die Form als alleinige Aufgabe der Architektur definiert, eigentlich nichts falsch machen kann. Es gibt wiederum seit den 1960er und 1970er Jahren eine dritte Kategorie von Akteuren, welche die Frage stellen, ob Planung überhaupt möglich oder erwünscht sei.  In einem im Jahre 1973 publizierten und seitdem viel beachteten Aufsatz stellten Rittel und Webber fest, dass die Art der Probleme, mit denen Planer konfrontiert sind, sich von den Problemen von Wissenschaftlern und einigen Kategorien von Ingenieuren grundsätzlich unterschieden, weil Planungsprobleme grundsätzlich bösartig seien – „wicked“ ist das englische Wort, das die beiden Autoren benutzten, und sie boten zugleich eine Reihe von verwandten Adverbien zur Bezeichnung des Sachverhalts an: heimtückisch, gemein, trickreich, aggressiv. Das sei so aus einer Reihe von Gründen (sie zählten in der Tat zehn davon auf); der vielleicht wichtigste sei, dass die Definition des Problems, schon die Richtung von dessen Lösung enthalte oder besser ein Vorgriff auf dessen Lösung sei. Die Formulierung des Problems (bei bösartigen Problemen) sei  das Problem.(8) Ein paar Jahre früher fassten der Architekt Cedric Price, der Kunsthistoriker Reyner Banham, der Journalist Paul Barker und der Stadtplaner Peter Hall  angesichts des Unbehagens mit der Planung die Idee einer völligen Umkehrung des Planungsvorgangs. Ihr Ansatz „Non-Plan – An Experiment in Freedom“ räumte mit der Praxis von top-down Entscheidungen auf und schlug stattdessen (in zunächst sorgfältig ausgewählten Beispielen) vor, die Verantwortung für die Organisation des Zusammenlebens im Raum seinen unmittelbaren Nutzern zu übergeben.(9)

Es gibt schließlich seit Neuestem eine vierte Kategorie von Diskutanten, die der Zweckmäßigkeit, dem Programm und der Planung als Bestandteile des architektonischen Dispositivs und damit als Faktoren der sozialen Relevanz von Architektur, wenn überhaupt, so doch nur eine sekundäre Bedeutung beimessen. „Jedes Ereignis in der zeitgenössischen Welt scheint ein Loblied auf die Interkonnektivität zu singen: Globalisierung, Konvergenz, übermächtige Kommunikationsmedien und neuer Kosmopolitismus entlang der darin eingenisteten Rückkopplungsschleifen des klimatischen Wandels.“ – so zitiert  Mark Foster Gage den Philosophen Graham Harman, ohne dabei zu bestreiten, dass das alles in einem gewissen Zusammenhang mit der Architektur steht. Architekten müssten demgemäß an die Umwelt denken, und darauf achten, dass ihre Produkte natürliche und soziale Gleichgewichte aufrechterhalten. Aber das seien keine hinreichenden Gründe, fügt er hinzu, womit sich Werke der Architektur legitimieren ließen. Ja er geht einen Schritt weiter und behauptet: Legitimationsversuche solcher Art seien bloße Alibiübungen. Aber: „Architektur ist kein Verbrechen und Architekten benötigen kein Alibi. Wenn Architekten die Architektur nicht aufgrund ihrer eigenen Qualitäten schätzen und den Architekten für die Produktion dieser Qualitäten, so können wir sicherlich nicht erwarten, dass andere die Architektur schätzen.“ (10)

Was sind aber die „Qualitäten“ von denen Gage spricht? Und kann man das Prinzip architektonischer Zweckdienlichkeit ohne Weiteres davon ausnehmen? Oder müsste man angesichts schwindender Zuversicht über die Planbarkeit der Welt, angesichts des Niedergangs „totaler Institutionen“ (Goffman), angesichts Aufweichung der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, angesichts nie dagewesener Vervielfältigung der Lebensentwürfe und –stile, angesichts der Revolutionierung der Produktionsbedingungen von Architektur gerade eben darauf bestehen und die Frage neue verhandeln?

1_ R.I.B.A.-Journal, June 1957, 307- 10. Aufgenommen in: John Summerson. The Unromantic Castle and Other Essays. London: Thames and Hudson, 1990. S. 257-66. Hier zit. nach: Joan Ockman (Hrsg.). Architecture Culture 1943‐1968. New York: Rizzoli, 1993. S. 227-236.

2_ H. J. Gans, Urbanism and Suburbanism as Ways of Life, in: R. Pahl (Hrsg.). Readings in Urban Sociology. Oxford: Pergamon, 1968. S. 129.

3_ Das Projekt, in: ARCH+ 189 (Oktober 2008), 12-15, hier: 13.

4_ Franz M. Wuketits. Evolution: die Entwicklung des Lebens. München: C. H. Beck, 2000. S. 46.

5_ Michael Dear. The Postmodern Urban Condition. Oxford: Blackwell Publishers, 2000. S. 119.

6_ P.Sztompka, The Dialectics of Spontaneity and Planning in Sociological Theory, in: U. Himmelstrand (Hrsg.). Spontaneity and Planning in Social Development. Beverly Hills, CA: Sage., 1981.).

7_ Anthony Giddens, Functionalism: Après la lutte, in: Social Research, Vol. 43, No. 2 (Summer 1976), 325-366. Hier besonders: 358.

8_ Horst W. J. Rittel und Melvin M. Webber, Dilemmas in a General Theory of Planning, in: Policy Sciences, 4.2 (Jun., 1973), 155-169.

9_ Reyner Banham, Paul Barker, Peter Hall und Cedric Price, Non-Plan – An Experiment, in: New Society No 388, 20 März 1969, 434-443.

10_ Mark Foster Gage, Killing Simplicity: Object-Oriented Philosophy In Architecture, in: Log 33 (Winter 2015), 95-106, hier: 100 und 106.

© Sokratis Georgiadis, 2015

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