ORDNUNG

 Stellen Sie sich auf der einen Seite eine Menge vollkommen geordneter Buchstaben vor – erst alle As, dann alle Bs, gefolgt von allen Cs und so weiter – und auf der anderen eine Menge Buchstaben in einer völligen Zufallsreihenfolge. Irgendwo dazwischen liegen die Werke Shakespeares. (Stephen Farrier)(1)

Chaos und Klassizismus, so war eine Ausstellung betitelt, die vor knapp fünf Jahren im Guggenheim Museum in New York stattfand.(2) Als Thema hatte sie – wie übrigens eine ähnlich gelagerte Schau, die vor etwa zwanzig Jahren in Basel organisiert wurde(3) – die überraschende Kehrtwendung, die die europäische Kunst um 1920 erfuhr. Eine Reihe von modernen Künstlern distanzierte sich damals recht plötzlich von den Experimenten des frühen Jahrhunderts, d.h. von den diversen –Ismen der Avantgarde, die der traditionellen, mimetisch agierenden Kunst durch eine Reihe von Abstraktionen, Fragmentierungen, Zerlegungen und Aufsplitterungen (Schneede) der Form ein für allemal ein Ende setzen sollte. Man bekannte sich jetzt erneut und unvermittelt zu den „plastischen Werten“ der Vergangenheit. Die Organisatoren der Ausstellung wählten das Wort „Chaos“, um damit die Befindlichkeit des europäischen Menschen nach der Tragödie des 1. Weltkrieges, der ersten großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, zu bezeichnen. Der Wunsch nach Wiederherstellung der Ordnung war – gemäß der Interpretation der Ausstellungsmacher – angesichts der traumatischen Erfahrung des Krieges die Antriebskraft  zum neuen Kunstschaffen, das sich formal als neue Variante des „Klassizismus“ kristallisierte. Unabhängig davon, ob man diese Kasuistik akzeptiert oder ob man die Signatur „Klassizismus“ als gemeinsamen Nenner eines ansonsten sehr vielfältigen Phänomens für akkurat hält, Der Ruf zur Ordnung („Rappel à l’ordre“, so der Titel eines Textes von Jean Cocteau im Jahre 1926) stimmte ohne Zweifel die wie auch immer gearteten künstlerischen Bestrebungen der Zeit an. Die Architektur – in der New Yorker Ausstellung von Le Corbusier, Mies van der Rohe und Terragni repräsentiert – beteiligte sich aktiv an diesem Projekt. Am prononciertesten natürlich Le Corbusier, dessen Voreingenommenheit mit elementaren Körpern, rechten Winkeln, Achsen und harmonischen Proportionen, erweitert mit den Forderungen nach dem Typus und dem Standard, eine unmissverständliche Sprache sprechen. Die architektonische Bewegung der „Neuen Sachlichkeit“, die in Deutschland den Expressionismus der unmittelbaren Nachkriegszeit ablöste, kann ebenfalls unter diesen Vorzeichen gelesen werden.

Ein zweites Mal im 20. Jh. tauchte der Rappel à l’ordre in den 1960er Jahren auf. In seinem jüngst erschienenen Buch, Utopia’s Ghost, weist der amerikanische Theoretiker Reinhold Martin die These zurück, wonach die architektonische Postmoderne eine räumliche und visuelle Kartierung der fundamentalen Instabilitäten einer Kultur der „Unübersichtlichkeit“ sein soll, und stellt die Behauptung auf, dass seit Ende der 1950er Jahre ein neuer „Ruf zur Ordnung“ so unterschiedliche Ansätze wie den Strukturalismus, die Megastruktur-Bewegung, Archigram und Tendenza mit dem Ziel antrieb, den destabilisierenden Kräften der Modernisierung entgegenzuwirken, an deren Beherrschung die Moderne gescheitert war.  Als Protagonisten dieser Re-Territorialisierungs- und Neufundierungsbewegung der Architektur hält Martin Aldo Rossi und Robert Venturi.

Rossi suchte die Tiefenstrukturen der Architektur im politischen Vollzug des „kollektiven Willens“. Und ihre Aufgabe bestand in der Bewahrung der Erinnerung an eben diesen „kollektiven Willen“.  Widerhergestellt sollte damit das  Gedächtnis einer durch die Biopolitik in Amnesie versetzten Population als Voraussetzung nämlich zur Wiedererlangung der organischen Einheit des politischen Körpers. Hinter Venturis „Komplexität und Widerspruch“ wiederum und seinem „schwierigem Ganzen“ lauerte – gemäß dieser Lektüre – stets der Drang nach „Einheit“. Dazu wurden allerdings nicht mehr konventionelle Verfahren wie Symmetrie und Hierarchie usw. bemüht. Erreicht werden sollte die Einheit durch zweideutige Beziehungen, die infolge des Zusammenfügens heterogener formaler Elemente umstandsbedingt erzeugt wurden. Gleichwohl blieb die Einheit auch hier oberstes Desiderat und Ziel.(4) Hierzulande hat die Wiederkehr der Forderung nach Ordnung die Form der bekannten  Debatte um die so genannte „kritische Rekonstruktion“ der europäischen Stadt in den 80er und 90er Jahren angenommen.

Für Architekten meiner Generation klang das Wort Ordnung immer etwas suspekt. Dahinter wurde stets das Starre, Erzwungene und Autoritäre oder das Konformistische und Konventionelle vermutet. Assoziiert wurden damit der Horror der nicht enden wollenden Achsen Speerscher Nazi-Nekropolen oder der Albtraum des biederen Häusles auf der Wiese mit Gartenzwergen und Doppelgarage, das sich sogar und seit geraumer Zeit schon in Form der sogenannten Gated Communities kollektiviert. Bernard Tschumi sagte einmal, stellvertretend für uns alle, man solle das Wort Ordnung aus dem Architekturvokabular ganz tilgen und es womöglich mit dem Wort Organisation ersetzen.  Es sind aber nicht moralisch-politische Überlegungen, die eine Dekonstruktion der Ordnung im herkömmlichen Sinne nahelegen. Übrigens wäre das auch anachronistisch, vielleicht etwas für den Stammtisch zwar ideologisch noch halbwegs stabiler, aber doch müde gewordener Alt-68er. Mit Dekonstruktion des herkömmlichen Ordnungsbegriffs meine ich etwas ganz anderes.

Vor 70 Jahren bereits formulierte der Psychologe Wolfgang Metzger folgende interessante Vermutung: „Es gibt (neben anderen) auch Arten des Geschehens, die, frei sich selbst überlassen, einer ihnen selbst gemäßen Ordnung fähig sind. Frei sich selbst überlassenes Geschehen führt darum nicht ausnahmslos zu schlechterer, sondern kann… auch zu besserer Ordnung führen. Ordnung kann unter Umständen von selbst, ohne das äußere Eingreifen eines ordnenden Geistes entstehen. Sie kann sich unter denselben Umständen auch ohne den Zwang starrer Vorrichtungen erhalten. Sie kann, ja muss, sofern sie nicht auf starren Vorrichtungen beruht, sich unter veränderten Umständen ohne besonderen Eingriff (ohne die Umschaltungen der Mechanisten und ohne die Verkehrsschutzmänner der Vitalisten) ändern.“(5) Im Kern öffnete hier Metzger eine Perspektive, die wenige Jahrzehnte später auf ganz unterschiedlichen Wissensgebieten:  in der Mathematik, den Naturwissenschaften, aber auch der Ökonomie und Ökologie, der Soziologie und Psychologie sich als ein ganz neuer Denkstil etablierte. Das herkömmliche deterministische Wirklichkeitsbild, wonach auf allen möglichen Erfahrungsebenen sich Ordnung als Produkt der Wirkung  perfekt kalkulierbarer Kräfte und Funktionen ergab, hatte sich längst als unzulänglich erwiesen. Diese Art von Ordnung stellte bestenfalls eine der möglichen oder denkbaren Ordnungen dar, sie war sozusagen eine Ausnahme oder Randerscheinung. Demzufolge wurde der Begriff umdefiniert und zwar diesmal als der jeweils wahrscheinlichste Zustand eines Systems innerhalb eines weit ausgedehnten Möglichkeitsraumes. An beiden Eckpunkten dieses Möglichkeitsraumes standen nun einerseits die deterministische Ordnung „alten Stils“ und andererseits der Zufall. Diese neue Art von Ordnung war weder vorausbestimmbar noch vorhersehbar, sondern prozessual und emergent: ihre Entstehungsweise war spontan, selbstorganisierend, d.h. sie entstand ohne zentrale Steuerung und ergab sich aufgrund der parallelen Wechselwirkungen vieler lokal miteinander konkurrierender und kooperierender zur Evolution und zur Anpassung an wechselnde Bedingungen fähiger Einzelbestandteile, schließlich war sie zwar irreversibel, aber nicht endgültig. Zum Verstehen der Komplexität der Prozesse, die bei der Entstehung solcher Ordnung involviert sind und zwar auf ihren verschiedensten Anwendungsgebieten ist der Einsatz des Computers als Werkzeug ihrer Modellierung unerlässlich. Die  Architektur beteiligt sich – nach ihrer digitalen Zeitwende – aktiv an diesem Diskurs. Um die Möglichkeiten der Anwendung komplexitätstheoretischer Modelle auf die Architektur beurteilen zu können, muss man jedoch stets wissen, auf welcher Ebene man jedesmal diskutiert bzw. operiert. So ist auf einer (geschichtlichen) Makroebene vielleicht möglich, die Entwicklung von Gebäudepopulationen nach unterschiedlichen Kriterien über längere Zeiträume als nicht-lineare  dynamische  Prozesse zu untersuchen. Auf einer Mikroebene, d.h. auf materialtechnischer und bauphysikalischer Ebene, auf der Ebene mithin, auf der Bauten sozusagen molekularisiert werden, können entsprechende Instrumentarien ebenfalls zur Anwendung kommen. Auf der Mesoebene – auf der Ebene des Gebäudes – wird die Sache jedoch schwieriger, weil wir es hier mit verhältnismäßig trägen Gebilden zu tun haben, deren Veränderungen über die Zeit recht geringfügig sind. Gebäude oder Gebäudeensembles bis zu ganzen Städten müssen aber andererseits sich gegenüber Abläufen, deren Rahmen sie bilden, und die in der Regel nicht-linearer dynamischer Natur sind, tolerant verhalten können.  Sie müssen Dynamik ermöglichen ohne selbst dynamisch sein zu können.  Die Mesoebene ist aber überdies das eigentliche Terrain des architektonischen Entwerfens. Dynamik zu berücksichtigen ist im Prozess der Formsuche und Formfindung möglich. Oft beschränken sich aber solche Ansätze auf Bildmetaphern, wenn nicht auf Monumentalisierung des Vielfältigen und Komplexen. Die Behauptung, dass einschlägige, computerbasierte Techniken über die symbolisch-metaphorische Ebene hinaus imstande sind, dabei zu helfen, soziokulturelle Komplexität architektonisch zu artikulieren und zu organisieren, müsste erst noch in der Praxis bestätigt werden. Diese Entwicklungen stecken also auf dem Gebiet der Architektur noch  in den Kinderschuhen.

1_ In einem Interview mit Robert Frenay. Vgl.: ders.: Impuls – Das kommende Zeitalter naturinspirierter Systeme und Technologien. Berlin 2006. S. 169.

2_ Chaos and Classicism: Art in France, Italy and Germany, 1918-1936. Guggenheim Museum New York, Okt. 2010-Jan. 2011.

3_ Gottfried Boehm, Ulrich Mosch und Katharina Schmidt (Hrsg.). Canto d’Amore – Klassizistische Moderne in Musik und bildender Kunst 1914-1935 (Ausstellungskatalog). Basel 1996.

4_ Reinhold Martin. Utopia’s Ghost – Architecture and Postmodernism, Again. Minneapolis und London 2010. Besonders Kap. 1: Territory.

5_  Wolfgang Metzger. Psychologie – Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. Erstauflage 1941. Zit. nach: Günter Schiepek. Die Grundlagen der Systemischen Therapie – Theorie, Praxis, Forschung. Göttingen 1999. S. 141f.

© Sokratis Georgiadis, 2015

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