Beim nachfolgenden Text handelt es sich um die Übersetzung des Artikels copier aus dem Dictionnaire historique d’architecture (1832) von Antoine-Chrysostôme Quatremère de Quincy (1755-1849). Wie der Leser bemerken wird, setzt der Secrétaire perpétuel der Pariser Académie des beaux-arts den Begriff des Kopierens von demjenigen der Nachahmung, sei es der Nachahmung eines natürlichen Vorbildes oder des Werkes eines früheren Autors bzw. der Werke früherer Autoren, deutlich ab. Und während er die Nachahmung als Anlass der Erfindung in den Künsten betrachtet, glaubt er, dass die Kopie zwar einen pädagogischen Wert habe, dass sie jedoch maßvoll einzusetzen sei, weil sie die Gefahr der Gewöhnung an die sklavische Repetition von schon Vorhandenem in sich berge. Eine erfindende Nachahmung wiederum ist in seinen Augen nicht identisch mit dem Nacheifern von Neuheit und Originalität. Der Klassizist Quatremère führt seine Polemik gegen das Streben nach Originalität in einem Wortlaut, wie er ihn (anderswo) in seiner vernichtenden Kritik gegen die barocke Architektur, v.a. gegen die Architektur Francesco Borrominis verwendet.
Kopieren (aktiv), eine Kopie machen: Die Herkunft dieses Wortes, die das italienische Wort copia ist, scheint uns mit hinreichender Genauigkeit den wirklichen Sinn anzuzeigen, der dem Begriff und der Handlung des Kopierens zugeschrieben wird. Copia, couple (Paar) bedeutet im Französischen das Doppel (double) jedes beliebigen Gegenstands. Daraus folgt, dass copiare die Erstellung des Doppels dieses Gegenstands bedeutet.
Wie man sieht, befindet sich die genaue Verwendung des Wortes kopieren auf dem Gebiet der Nachahmung (imitation) und eben dieses Konzept ist es, das es ausdrückt.
Gleichwohl gibt das Wort Nachahmung, wie man im einschlägigen Artikel liest, eine andere, gewissermaßen weit breitere und zugleich weit höhere Idee wieder. Allgemein gesprochen, versteht man darunter die Wiederholung eines Gegenstands durch einen und in einem anderen Gegenstand, der so zum Abbild desselben wird. Eine Vertiefung dieser Theorie zeigt jedoch, dass es ebenso viele Arten der Nachahmung gibt wie Arten der Reproduktion des Bildes eines Gegenstandes in einem anderen Gegenstand.
Demgemäß kann man die Nachahmung als Handlung, die auf Wiederholung eines Gegenstandes abzielt, in drei Kategorien aufschlüsseln:
Es gibt eine Art der Wiederholung, die ihrem Autor außergewöhnliche Fähigkeiten des Geistes, der Empfindung und der Fantasie abverlangt. Das ist, moralisch gesprochen, die Nachahmung im eigentlichen Sinne.
Es gibt ferner eine materielle Nachahmung: es handelt sich hierbei um eine Wiederholung, die Produkt mechanischer Verfahren und fehlerfreier Techniken und daher in moralischer Hinsicht indifferent ist.
Es gibt schließlich zwischen diesen beiden Möglichkeiten eine weitere Art der Wiederholung, deren Urheber von dem, was ein künstlerisches Genie kennzeichnet, genauso entfernt ist wie von dem, was der Routinehandlung eines Arbeiters entspricht; das ist die Kunst des Kopisten.
Tatsächlich ist die Kopie in den wirklich imitativen Künsten Resultat der Begabung des Menschen, viel weniger eines technischen Vorgangs, der von dem, der ihn ausführt, unabhängig ist. Sie setzt ein gutes Auge, eine Fertigkeit in der Ausführung und einen Sinn für die Schönheiten des Originals voraus. Sie verlangt folglich nach Begabung und Intelligenz.
Das Kopieren ist keine Sache, die der Kunst des Genies völlig fremd ist, doch aber dem Geist der Kunst oder der Erfindung.
Wir sollten noch sagen, dass sich die Idee der Nachahmung auf die Wiederholung der Werke der Natur bezieht, während die Idee der Kopie der Wiederholung von Kunstwerken entspricht.
Da man mit Hilfe der Kunstwerke die Werke der Natur zu erkennen und nachzuahmen lernt, gleichsam wie in einem Spiegel, der ihre Züge zusammenträgt, müssen die Anfänger in der Regel mit dem Kopieren beginnen. Die Kunstwerke sind nämlich besser kontrollierbar und fassbar. Daran liegt es, dass die Schüler ihre Studien mit dem Kopieren beginnen sollen; mit dem Kopieren fangen eben all diejenigen an, die zukünftig zur Nachahmung bestimmt sind.
Wir haben gesagt, dass der Begriff der Kopie denjenigen der Erfindung ausschließt und dass die Erfindung wiederum die Nachahmung in ihrem eigentlichen Sinn ausmacht. Daraus folgt, dass wenn auch man, um das Nachahmen zu erlernen, mit dem Kopieren beginnt, sich dieser Tätigkeit doch nicht zu lange widmen darf, denn sonst würde man die Fähigkeit zur Erfindung in einem passiven Zustand ruhen lassen und dadurch die eigene Entwicklung behindern.
Indessen gibt es bei den Studien, die man zu Kunstwerken anstellt, eine Einstellung, die einen näher an den Nachahmer als an den Kopisten bringt. Das ist das Geheimnis schlechthin des Geistes und der Empfindung. Doch dieses Geheimnis, in das die Lehrer ihre Schüler im Rahmen der Lektionen einer aktiven Lehre einweihen können und die Beispiele dazu, lassen sich schwer mittels der Dokumente einer abstrakten – und sehr oft wertlosen – Theorie vermitteln.
Man hat die großen Männer betrachtet, die die Werke ihrer Vorgänger nachgeahmt haben, sich sogar ihren Geschmack und ihren Stil angeeignet haben, ohne dadurch sich als weniger originell und erfinderisch zu erweisen. Es ist nämlich immer möglich, mit den Ideen und den Konzepten anderer erfindungsreich umzugehen. Es ist möglich, ihrer Marschroute zu folgen, ohne jedoch unmittelbar auf ihre Fußstapfen zu treten, sich eher nach dem Geist als nach dem Buchstaben ihrer Erfindungen zu richten, in einer Weise nämlich, auf die man einerseits aus ihrem Beispiel lernen kann und andererseits selbst das Recht erwirbt, den Nachfolgenden als Vorbild zu dienen. Eine ähnliche Studie der Nachahmung ist die, die sich weniger auf Werke bezieht, die ihrem Autor als Eigentum gehören, als auf die Natur, aus der diese Werke ihre Maximen und Lehren abgeleitet haben. Gerade hierauf haben große Männer ihre eigenen Karrieren aufgebaut.
Das entscheidet denn auch auf diesem Gebiet, ob jemand vergangene Werke nachahmt oder deren einfacher Kopist ist. Im ersten Fall kann man aus den Erfindungen der anderen die Maximen und die Inspiration ablesen, die sie hervorgebracht haben, man hat die Routen studiert, die ihr Genie durchwandert hat, und man hat gelernt, für Ähnliches den Weg zu bahnen, während der Kopist nur entnommene Ideen in seinen Werken sklavisch wiederholt und dadurch nur das Hinterherlaufen und nicht das eigenständige Gehen übt.
So wie man mit Blick auf die Heranbildung von Nachahmern die Schüler anhält, mit dem Kopieren zu beginnen, sollte man vermeiden, sie vergessen zu lassen, welches das Ziel ist, auf das sie hinstreben sollen. Es ist angebracht, sie verstehen zu lassen, den Unterschied zu beachten, der zwischen einerseits vorzeitigen Ambitionen, die jeden Zwang zurückweisen und andererseits einer sklavischen Folgsamkeit, die sich nicht traut, das Joch der ersten Studien abzuschütteln, besteht.
Es gibt womöglich keine andere Kunstsparte, deren Lehre so sehr nach der praktischen Anwendung dieser Unterscheidung verlangt, wie die Kunst der Architektur. Das liegt daran, dass nirgendwo sonst die Verwechslung zwischen dem Begriff der Kopie und dem der Nachahmung so leicht fällt. Wenn, wie man schon wiederholt gesagt hat, der Begriff des Kopierens (in den zeichnenden Künsten) sich auf die Wiederholung eines Kunstwerks bezieht, während der Begriff des Nachahmens sich auf das Werk der Natur richtet, lässt es sich einfach erklären, weswegen eine Kunst, die über kein positives Vorbild in der Natur verfügt , viel leichter Kopisten hervorbringt als Nachahmer.
Das hat übrigens die Erfahrung zu Genüge bewiesen.
Die Lehrenden sollten also den Studierenden als Vorbilder solche Kunstwerke vorsetzen, an denen sie ihren Geist und ihre Augen gewöhnen können, nach den Prinzipien und Regeln in den Monumenten der menschlichen Hand zu suchen. Eben da, wo eine tiefe Empfindung für das Schöne und das Gute vorhanden ist, eine hinreichend große Macht der Erkenntnis, um dadurch an das zu gelangen, was, abstrakt gesprochen, das ideale Vorbild der Architektur ist, und daraus die am materiellen Werk anzuwendenden Kombinationen abzuleiten. Es ist viel leichter und schneller, das zu wiederholen, was auf Grundlage banaler Ressourcen nach Maß und Kompass geschaffen wurde. Man sollte die Praxis in der Tat auch akzeptieren, wenn es nicht auf eine Kunst ankommt, bei der die Imitation das Gewöhnliche erweitern soll; nur die Kopie, im wahren Sinne des Wortes, ist der breiten Masse zugänglich. Der Maßstab und der Kompass reichen nicht, um eine Figur der Malerei und der Skulptur zu wiederholen. Ein Bauwerk hingegen kann (auf diesem Wege) treu und mechanisch kopiert werden.
In vitium ducit culpae fuga, sagte Horaz: In Fehler führt uns die Flucht vor Fehlern. Das hat man an vielen Disziplinen beobachten können, aber vor allem an der Architektur. Seit der Wiedergeburt der Künste haben die Monumente der antiken Kunst während zwei Jahrhunderten nie aufgehört, die Typen zu sein, nach welchen die größten Meister die Regelwerke ihrer Entwürfe richteten, zudem ihren Geschmack und ihren Stil ausbildeten. Man kann sie wirklich als Beispiele heranziehen, um aufzuzeigen, was den Nachahmer vom Kopisten unterscheidet. Die Einfachheit der Grundrisse, ihre Entsprechung zu den Aufrissen, die Reinheit des Stils, der Respekt gegenüber den Typen, die Beachtung der Proportionen bei der Aufstellung der Ordnungen und bei der Ausbildung ihrer Teile und mit alledem auch die sachgerechte Anpassung an moderne Nutzungen, die Formen, die Maße, die Ornamente, die Einbeziehung dessen, was andere Länder und andere Sitten hervorgebracht haben: das kennzeichnet die Nachahmungspraxis der antiken Architektur in den zwei Jahrhunderten, von denen die Rede war.
Aber bald untergruben der Hochmut und das Streben nach einer sinnlosen Originalität sowohl die Prinzipien und die Wirkungen einer sachgerechten Nachahmung wie auch alle Aussichten auf Erneuerung. Nach den Prinzipien der Antike vorzugehen, galt als etwas, was den Kopisten eigen war. Aus Furcht das zu kopieren, was sich in Jahrhunderten etabliert hatte, ersann man nichts Geringeres als das genaue Gegenteil dessen. Man weiß ja und man hat es auch anderswo gesagt, was aus dieser Furcht, nämlich Kopist zu sein, herausgekommen ist. Man hat die Neuheit für Erfindung gehalten und hat dabei nicht erkannt, dass zwar in aller Erfindung Neuheit steckt, dass aber der Umkehrschluss, wonach in jeder Neuheit Erfindung stecke, nicht stimmt.
Das eben ist der Fehler, den man begangen hat, indem man die Defizite des Kopisten vermeiden wollte. Wenn es um die Entscheidung zwischen einem Defizit und einem Fehler geht, denke ich nicht, dass die Wahl zweideutig ist.
Übersetzung aus dem Französischen: S.G.
© Sokratis Georgiadis, 2015