Lord Bruce Bernard Weatherill diente in den Jahren 1983-1992 als Speaker des British House of Commons – d.h. als britischer Parlamentspräsident. Der spätere Baron Weatherill, von Beruf aus Schneider, war nicht nur der letzte Speaker des Noblen Hauses, der eine Perücke trug. Während seiner Amtszeit fiel auch der Beschluss, TV-Kameras ins Parlament zuzulassen, was damals einer Sensation gleichkam. Die Zurschaustellung der Innereien der politischen Macht – in diesem Fall der Legislative -, die bis dahin von den Blicken des gemeinen Volkes in mehrschichtiger Einhüllung geschützt operierte, widersprach der hergebrachten Ordnung der Dinge massiv und stieß daher, zumal in Kreisen traditionsbewusster Briten, auf wenig Gegenliebe. Nichtsdestotrotz setzte die damals ungeheuerlich anmutende Maßnahme einen Prozess in Gang, der in der Folgezeit in unaufhaltsamer Weise immer breitere Wellen schlug.
Gut 25 Jahre später war in den Zeitungen zu lesen: „Die Frau des britischen Parlamentspräsidenten macht erotische Fotos und geht in den Big-Brother-Container: Ihr Mann, dessen Ordnungsrufe im Parlament Gewicht haben sollten, scheint zu Hause machtlos. Großbritannien ist amüsiert und wettet bereits auf seinen Rücktritt“ (24. August 2011). Der Fall Sally Bercow, so der Name der Gattin des Mr Speaker, führte eindrücklich vor Augen, dass die medialen Schlaghammer nicht nur den vormals als sakrosankt geltenden Schutzschild der parlamentarischen Machtfabrik durchbohrt, sondern dass sie nun selbst die Privatsphäre eines ihrer exponiertesten Akteure zur öffentlichen Bühne verwandelt hatten. Das Publikum wusste natürlich längst schon, dass die „Tyrannei der Intimität“, die in den 1970er Jahren der amerikanische Soziologe Richard Sennett beklagt hatte, sich seit geraumer Zeit in ihr Gegenteil, d.h. in einen wild um sich greifenden Exhibitionismus verwandelt hatte. Und so fasste es den Vorfall nicht mehr als Tabubruch auf; es reagierte darauf nicht entrüstet sondern amüsiert und nutzte die Affäre als Anlass zum Zocken.
Man kann diese kleine Geschichte als eine Architekturparabel lesen, als eine Geschichte über Gehäuse und Flüsse, als eine Geschichte über den Raum in seiner dualen Eigenschaft – einmal als Umschließung, dann aber auch als Ausdehnung. Dual heißt hier, dass die beiden Raumeigenschaften – Umschließung und Ausdehnung – nicht voneinander separiert werden können, sondern in steter Wechselwirkung stehen und daher mitgedacht werden sollen. Unsere kleine Geschichte veranschaulicht einen Prozess der nachlassenden Widerstandsfähigkeit einst stabiler Gehäuse, ihrer zunehmenden Porosität, die sich unter bestimmten Bedingungen zur absoluten Durchlässigkeit entwickeln kann. Der auslösende Faktor ist dabei die erodierende Kraft der Netze, die, ob virtuell oder physisch, einer Kriegsmaschine ähnlich, feste Grenzen aufweichen, zersetzten, durchlöchern, durchbrechen und schließlich auflösen.
„Meine Gehäuse sind undicht“, schreibt der MIT-Architektur- und Medienprofessor William Mitchell. “Die verschiedenen, mich umgebenden Grenzen werden von Wegen, Rohren und Kabeln durchkreuzt, die Zu- und Abflüsse von Menschen, anderen Lebewesen, bestimmten Gütern, Gasen und Flüssigkeiten, Energie, Information und Geld räumlich zusammenfassen. Mit der Ausbreitung von Netzwerken und unserer zunehmenden Abhängigkeit von ihnen, erfolgte eine graduelle Umkehrung des Verhältnisses zwischen Barrieren und Verbindungen. Ausdehnung und Verflechtung übertrumpfen Umschließung und Autonomie. Das Territorium zu kontrollieren, bedeutet wenig, wenn nicht gleichzeitig die Kanalkapazitäten und die Zugangspunkte, die es bedienen, kontrolliert werden.“(1)
„Der Raum (hier gedacht im Sinne des umschlossenen Raumes) verschwindet!“, sekundiert die Gießener Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick. „Denn unübersehbar ist das (…) Phänomen der globalen Enträumlichung und Entortung. Das Überhandnehmen der Telekommunikation und anderer Informationsströme in ihrer translokalen Ausbreitung wie Internet und E-Mail, die Verdichtung des Raumes durch Geschwindigkeit und Überwindung von Entfernungen führen zur Wahrnehmung der Welt als eines ‚global village‘. In einer Welt des „www“ ist es nicht entscheidend, von wo aus sich die ‚user‘ einloggen. Raum scheint eine eher untergeordnete Rolle zu spielen in dieser Situation von Translokalität, Heimatlosigkeit, Ortlosigkeit, Fließen von Informationen usw. Ökonomie, Politik und Massenmedien wirken hier zunehmend entlang der Linien von Kommunikation und nicht etwa entlang ethnischer, räumlicher, territorialer und nationalstaatlicher Grenzen.“(2) Gleichzeitig diagnostiziert Bachmann-Medick aber auch eine gegenläufige Tendenz: das Aufkommen neuer Grenzziehungen, neuer räumlicher Disparitäten, Raumansprüche und Abgrenzungen. Sie zitiert dabei den amerikanischen Kulturtheoretiker Frederic Jameson: „Any careful study of our surroundings indeed reveals a multiplicity of borders, walls, fences, thresholds, signposted areas, security systems and checkpoints, virtual frontiers, specialized zones, protected areas, and areas under control.“
Die Überschneidung von Grenzen und Netzwerken, oder, wenn man will, von Ort und Fluss und die zunehmende Macht der Netze innerhalb dieser Gemengelage verändern das räumliche Verhalten grundlegend. Da Netzwerke dazu da sind, Versatilität – Beweglichkeit – zuzulassen und zu erhöhen, rückt das Bewegungsmanagement in den Mittelpunkt räumlichen Verhaltens. Der Münchner Soziologe Sven Kesselring unterscheidet in der heutigen Gesellschaft, die er als mobile Risikogesellschaft bezeichnet, zwischen drei Typen von Mobilitätsmanagement, aus dem gleichsam drei unterschiedliche Lebensmodelle hervorgehen. Der erste Typus besteht im so genannten zentrierten Mobilitätsmanagement. Die Akteure agieren mit einem festen Lebensmittelpunkt als Basis, aus dem heraus sie ihr engeres oder breiteres Umfeld erkunden. Dieses Management setzt starke soziale Netzwerke und Orte sozialer und kultureller Identifikation voraus. Soziale Beziehungen werden über Face-To-Face Interaktion aufrechterhalten. Der zweite Typus ist das de-zentrierte Mobilitätsmanagement. Die Akteure bewegen sich zwischen verschiedenen, beinahe äquivalenten Orten, mit denen sie nicht in einem besonderen sozialen oder kulturellen Kontakt stehen. Beliebtestes Fortbewegungsmittel ist dabei das Flugzeug, Wohnort vielleicht das Hotel. Das Internet, die persönliche Webseite und E-Mail Adresse, das Mobiltelefon verleihen diesen hypermobilen Individuen Stabilität. Dabei fallen soziale und räumliche Stabilität auseinander. Der dritte und extremste Typus ergibt sich ebenfalls aus einem de-zentrierten Mobilitätsmanagement. Die Akteure entwickeln ein nomadisches und rhizomatisches Verhalten; deren Mobilität ist nicht-gerichtet aber auch nicht bezugslos. Diese Individuen sind Cyber-Kreaturen, die mittels Internet mehrere Netzwerke erzeugen, die sie vor Desintegration und Bezugslosigkeit bewahren. Sie können physisch völlig immobil bleiben, angebunden an ihrem Schreibtisch, ihrer Homepage und ihrem E-Mail-Account.(3) Während nun der erste Typus – zentriertes Bewegungsmanagement – sich in der heutigen Zeit vielfach als Anachronismus erweist, geht bei den beiden anderen der öffentliche Raum als physischer Ort, innerhalb dessen sich traditionell soziale Interaktion entfaltet, verloren: etwa der Platz und die Straße, die nach einer Formulierung von Walter Benjamin „die Wohnung des Kollektivs“(4) ist, oder die physisch-räumliche Artikulation jenes „Dazwischen“, das nach Hannah Arendt als Ort der Konstitution des Sozialen und Politischen fungiert.(5)
Gerade auf sozialpolitischem Gebiet zeigt sich heute aber auch, dass diese Defizite verschwinden, sobald unterschiedliche Typen des Bewegungsmanagements sich zu neuen hybriden Bildungen zusammenfinden. Die Folge daraus sind emergente Phänomene mit nicht vorhersehbarer Schlagkraft, die bestehende Ordnungen aufmischen und die Bühne für neue Entwicklungen öffnen. So merkwürdig dies auch klingen mag: Diese Art der Hybridisierung hat auch eine architektonische Relevanz. Wenn man Grenzen und Netzwerke als Dualität denkt und erst dadurch die Dynamik und die Potenziale ihrer Wechselwirkung erkennt, kann man sie auch als Operanden neuer Raumkonfigurationen verfügbar machen. Reicht dann die Theorie den Stab an das architektonische Projekt weiter, so könnte eine mögliche Fragestellung folgendermaßen lauten: Was würde passieren, wenn man die beiden Logiken – des Gehäuses und des Flusses – zusammendenken würde oder was für neue Potenziale könnten entstehen, wenn man die beiden Programme – der Umschließung und der Ausdehnung – zusammenwirken ließe?
1_ William J. Mitchell. Boundaries/Networks. Zuerst erschienen in: Me++: The Cyborg Self and the Networked City. Cambridge MA. 2003. S 7-17.
2_ Doris Bachmann-Medick. Cultural Turns – Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. Hamburg 2010. S. 287f.
3_ vgl. David W. Hill, Unstable Identities in the Networked City, in: City, 14:1-2 (2010), 199-202.
4_ Walter Benjamin. Das Passagen-Werk (Hrsg. Rolf Tiedemann). Frankfurt/M. 1983. S. 533, 994 usw.
5_ vgl.: Sigrid Weigel, Zum Topographical Turn, in: KulturPoetik, 2,2 (2002), 151-165.
© Sokratis Georgiadis, 2015