Die „Charta von Athen“ gilt heute noch als das städtebauliche Manifest der modernen Bewegung. Sie geht zurück auf den 4. Kongress der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM), diesem wichtigen Architektenzusammenschluss (1928-1956), der auf einem Dampfer auf der Fahrt Marseille-Athen-Marseille vom 29. Juli bis zum 13. August 1933 stattfand. Etwa 100 hauptsächlich Architektinnen und Architekten aus verschiedenen europäischen Ländern hatten sich dabei vorgenommen, über 30 europäische und nicht-europäische Städte auf der Grundlage einheitlicher Kriterien zu analysieren, um die vermeintlichen und tatsächlichen Probleme und Missstände der modernen Stadt festzustellen und in einem weiteren Schritt Richtlinien für die Planung der Stadt der Gegenwart und Zukunft zu entwickeln. In diesen Tagen jährt sich das 90. Jubiläum dieses auch für den nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit praktizierten Städtebau überaus folgereichen Kongresses. Aus diesem Anlass wird der vorliegende Text zum ersten Mal in deutscher Sprache präsentiert. Er befasst sich mit dem 4. Kongress und legt einen besonderen Akzent auf die ihm vorangegangenen Debatten, aus denen die unterschiedlichen Positionen zum Thema und die daraus sich ergebenden Konfliktlinien besonders plastisch hervortreten. (Erstpublikation in englischer Sprache in: Evelien van Es u.a. (Hg.), Atlas of the Functional City, Bussum and Zurich, 2014). SG, Juli 2023
Sokratis Georgiadis
FUNKTION UND KOMPARATIVE METHODE
CIAM 4: Versuch einer theoretischen Rekonstruktion
Die außerordentliche CIAM-Tagung am 4. und 5. Juni 1931 in Berlin stellte in zweifacher Hinsicht einen wichtigen Meilenstein auf dem Wege zum 4. CIAM-Kongress dar, der zwei Jahre später unter dem Titel „Die funktionelle Stadt“ stattfinden würde. Einerseits weil in Berlin die von Cornelis van Eesteren vertretene holländische Gruppe die Richtlinien zum Kongress präsentierte und zudem am Beispiel der Stadtanalyse von Amsterdam das Muster vorlegte, nach dem die verschiedenen nationalen Gruppen bei der Untersuchung „ihrer“ Städte vorzugehen hatten und damit gleichsam den verbindlichen Rahmen für die 34 Stadtanalysen setzte, die dann im Kongress selbst tatsächlich vorgestellt wurden. Andererseits weil in der Tagung anlässlich der Debatte um methodische Fragen der Stadtanalyse – der einzigen tiefgreifenden theoretischen Auseinandersetzung um grundsätzliche Fragen der urbanen Wirklichkeit vom Zeitpunkt an, an dem die Stadt zum Thema des 4. Kongresses deklariert wurde,[1] bis zum Ende des Kongresses selbst – zwei konträre weltanschaulich grundierte Auffassungen über die Stadt an die Oberfläche gerieten, die zwar nicht zu einem offenen Konflikt, aber doch stillschweigend zur Klärung der Machtverhältnisse innerhalb der CIAM führten – mit prägender Wirkung auf das Profil und die Ausrichtung der Organisation.
Ohne explizite ideologische Referenzen positionierten sich die Exponenten des ersten Pols dieser Debatte als Verfechter einer wertneutral wissenschaftlichen, positivistischen Auffassung; sie legten den Schwerpunkt auf eine deskriptive Erfassung des modernen Stadtphänomens mittels Kartierung und schriftlichen Berichts und trugen ihre allerdings eher spärlichen normativen Aussagen in mehr oder weniger reformistisch/technokratischen Begriffen vor. Die Vertreter des zweiten Pols hingegen sahen die Stadt als Abbild von Produktions- und Machtverhältnissen, erkannten also auch an den Missständen der modernen Stadt ein fundamentales systemisches Problem und bekannten sich hinsichtlich der Analyse des urbanen Phänomens zum historischen Materialismus. Eine Veränderung der Stadt war für sie wiederum mit einer Veränderung des gesellschaftspolitischen Systems untrennbar verknüpft.
Der bei Eröffnung der Berliner Tagung in der Nachfolge von Karl Moser als Präsident der CIAM bestätigte Cornelis van Eesteren, war Wortführer der ersten der zwei genannten Positionen. An der Berliner Tagung erläuterte er, wie erwähnt, die auf Beschluss der Vorbereitungskommission zum 4. Kongress, die am 15. Februar 1931 in Zürich getagt hatte, von der holländischen Gruppe erarbeiteten Richtlinien für den Kongress. Bei der Aufstellung dieser Richtlinien, so betonte van Eesteren, habe die Gruppe angenommen, „dass wir, um überhaupt über die Stadt reden zu können, zunächst einen Einblick in den Begriff ‚Stadt‘ haben müssen, dass wir zuerst irgendwie wissen müssen, was überhaupt eine Stadt ist.“[2] Auf diese sokratische Frage[3] gingen der Richtlinien-Text und van Eesteren auf ähnliche Art ein wie der antike Philosoph. Man könne nach einer Sache suchen, von der man nicht wisse, was sie sei, indem man sich an ein Vorwissen oder Vorverständnis derselben zurückerinnere, in dessen Besitz man sich befinde, sagte Sokrates im platonischen Dialog Menon.[4] Ihm ging es um Fragen der Moral, van Eesteren hingegen um konkrete materielle, historisch entstandene Gebilde. Daher ist es verwunderlich, dass das Vorwissen oder Vorverständnis des Phänomens sich beim holländischen Architekten – und obwohl van Eesteren selbst mehrmals auf den Wert der Erfahrung bei dessen Erfassung hinwies – nicht auf die es konstituierenden empirischen Tatsachen stützte: die Häuser, die Straßen, die Plätze, die sie bewohnenden Menschen, sondern auf einen abstrakten Begriff, den Begriff der Funktion. Der Erinnerungshorizont schien dabei nicht sehr weit zurückzuliegen, hatte doch bereits der Gründungskongress der CIAM im Jahre 1928 die Stadt aufgrund ihrer vermeintlichen Funktionen: das Wohnen, das Arbeiten, die Erholung und der zu ihrer Erfüllung notwendigen Mittel: die Bodenaufteilung, die Verkehrsregelung und die Gesetzgebung definiert.[5] In den Richtlinien hieß es nun: „Der Begriff ‚Funktionelle Stadt‘ geht davon aus, dass die Grundfunktionen der Stadt: Wohnen, Arbeiten, Erholung, mit dem Verkehr als bindendes Element, für die Stadtform bestimmend sind.“[6] Der etwas unglücklich gewählte Begriff „Stadtform“ sprach dabei sicher nicht die ästhetische Sphäre an, er besaß auch keine stadtbaukünstlerischen Konnotationen, sondern wurde als deskriptiver Begriff verwendet, um einen nicht weiter definierten, aber auf alle Fälle schwer greifbaren „verzweigten Komplex“ (als der die Stadt in den Augen van Eesterens erschien) zu bezeichnen.[7] Um diesen zunächst sehr vagen Stadtbegriff zu präzisieren, sollte man – wie vom Richtlinienentwurf bereits vorgesehen war und von van Eesteren in Berlin bestätigt wurde – „analytisch-kritisch in Bezug auf die bestehende Stadt – synthetisch-aufbauend in Bezug auf die neue Stadt “ vorgehen und sich dabei auf eine recht breite Grundlage von zahlreichen Fallbeispielen stützen, die es im Zuge dieses zweistufigen Vorgangs miteinander zu vergleichen galt.
Dabei war der Terminus „neue Stadt“ von Anfang an zweideutig. Wie van Eesteren in seiner Einführungsrede erläuterte,[8] waren damit sowohl die Reparatur vorhandener Städte als auch Stadtneugründungen gemeint, wie sie beispielsweise in der Sowjetunion seit den Beschlüssen des Fünfjahresplanes von 1929 vorangetrieben wurden. Angesichts des ursprünglich geplanten Austragungsorts des Kongresses in Moskau bekam letzterer Aspekt einen besonderen Stellenwert.
Einige Delegierte gingen gegenüber der von van Eesteren vertretenen Position deutlich auf Distanz. Zeitweilig schien sich sogar eine Opposition gegen den Leitdiskurs zu formieren.
So sprach Arthur Korn der von der holländischen Gruppe vorgeschlagenen Methodik, besonders der Kartierung der zu untersuchenden Städte zwar nicht jeden Wert ab, fügte aber hinzu, dass diese nur „ein geringer Ausschnitt der Arbeit“ sei,[9] „die auf dem Gebiet geleistet werden muß“. Er nutze seine Stellungnahme zu einem sozusagen seminaristischen Rückblick auf die Stadtgeschichten von Paris, London und Berlin, um dadurch aufzuzeigen, dass eine Einsicht in die Entwicklungsgesetze der Stadt nach einer historischen Analyse unter Anwendung der historisch-materialistischen Methode verlange, was die aufgestellten Richtlinien zum 4. Kongress völlig ignorierten. Dabei seien die spezifischen historischen Produktionsweisen und Klassenverhältnisse die ausschlaggebenden Faktoren für den jeweiligen Charakter, den eine Stadt annehme. Was vorgeschlagen wurde, gab Korn zu verstehen, bilde nur den gegenwärtigen Zustand der Stadt ab und sei ungeeignet, zu Schlussfolgerungen darüber zu führen, „wohin sich voraussichtlich die weitere Entwicklung bewegen wird.“[10] „Auch aus der Sammlung der 30 verschiedenen Pläne“, sagte er an anderer Stelle, „wird sich im Grunde genommen immer dasselbe Bild ergeben. Nach grosser Mühe wird sich ein zwar sehr exaktes, schliesslich aber auch sehr langweiliges Resultat ergeben.“[11]Auf ähnliche Weise argumentierten die Vertreter der Tschechoslowakei, so der Bauhäusler und Hannes-Meyer-Vertraute Peer Böcking sekundiert von Nasim Nesis. Diese, sich ebenfalls zum Marxismus bekennenden Teilnehmer misstrauten dem Empirismus der von den Holländern eingeschlagenen Linie. „Die Tatsachen sind wunderbar“ sagte Nesis, „aber man ist hilflos, man konstatiert die Fakten und kann nicht die Verbindungen herstellen, kann nicht erklären, warum eine Stadt wie Amsterdam in den Zustand gekommen ist, in dem sie sich heute befindet.“[12] Uneinig war sich diese Gruppe allerdings darüber, ob man den analytischen Teil der Arbeit historisch-materialistisch ausweiten, um die Triebkräfte der Stadtentwicklung offen zu legen und zu verstehen,[13]oder ihn nach Möglichkeit kurz halten sollte, um ohne große Verzögerung zur Projektierung der „neuen Stadt“ überzugehen.[14] Letztere Einstellung entsprach den Absichten auch anderer Teilnehmer, wie z. B. des polnischen Vertreters Szymon Syrkus, der behauptete, dass der analytisch-kritische Teil der bestehenden Städte „von grossem Interesse für theoretisch-wissenschaftlich arbeitende Historiker“ sei, für den aber „die im Städtebau praktisch tätigen Architekten keine Zeit vergeuden sollten.“[15]
Dass soziopolitische Fragen eine eminente Relevanz für den Städtebau besäßen, stellte (vielleicht mit Ausnahme Alvar Aaltos) keiner der Teilnehmer der Berliner Tagung in Frage. So bemerkte Gropius, dass die Sozialstruktur Anfangspunkt der städtebaulichen Diskussion sei[16] Ebenso Erich Mendelsohn, der zugleich für einen Pluralismus der Weltanschauungen innerhalb des Kongresses eintrat[17] und der Belgier Raphaël Verwilghen, der die systemstabilisierende Funktion des Städtebaus hervorhob.[18] Johann Wilhelm Lehr verwies auf die Abhängigkeit des Städtebaus vom jeweiligen politisch-ökonomischem System.[19] Der Schwede Uno Åhrén machte auf die taktischen Aspekte beim Umgang mit soziopolitischen Fragen im Städtebau aufmerksam,[20] während Szymon Syrkus die gesellschaftspolitische Wirksamkeit von Architektur und Städtebau betonte. [21] Ernst May stellte schließlich in aller Deutlichkeit heraus, dass sich am Städtebau die Scheidung der beiden gesellschaftspolitischen Systeme, des Sozialismus und des Kapitalismus unmittelbar abbilde.[22] Die Holländer van Eesteren und Willem van Tijen und die Schweizer Giedion, Rudolf Steiger und Werner Moser schwiegen sich aber während des gesamten Verlaufs der Tagung über die Frage einfach aus. Angesichts dieser Sachlage erscheint das Ausmaß der Irritation, die eine Intervention Mies van der Rohes zu eben dieser Frage auslöste, recht erstaunlich. In seiner gewohnt lakonischen Art sagte Mies zu einem Zeitpunkt als die Beratungen des ersten Sitzungstages ziemlich weit fortgeschritten waren: „Ich glaube, der Kongreß ist vor zwei Fragen gestellt. Die erste Frage lautet: ist Städtebau im Wesentlichen eine politische Frage? Die zweite Frage heißt: soll oder kann sich der Kongreß damit befassen?“[23] Seine eigene Indifferenz gegenüber gesellschaftspolitischen Fragen – und darin war er Aalto gar nicht unähnlich – hatte er ein Jahr davor in aller Klarheit artikuliert: „Die neue Zeit ist eine Tatsache; sie existiert ganz unabhängig davon, ob wir ‚ja‘ oder ‚nein‘ zu ihr sagen. Aber sie ist weder besser noch schlechter als irgendeine andere Zeit. Sie ist eine pure Gegebenheit und an sich wertindifferent.“[24] Für Mies war also die Sache klar, und weil sie klar war, konnte sein Berliner Zwischenruf nur als Provokation gedacht gewesen sein. Er ist auch als solche angekommen. Der gegenüber den CIAM stets reservierte und vorsichtig distanzierte Mies, hatte in Wirklichkeit und in zugespitzter Form (Mendelsohn) den wunden Punkt der Tagung getroffen. Die theoretisch gar nicht so versierten marxistischen Teilnehmer, die während der gesamten Tagung nichts anderes versucht hatten, als den Städtebau als genuin politische Frage zu diskutieren, wehrten sich vehement gegen ihn. Denn wäre die aus allen ihren Aussagen durchscheinende Forderung nach Politisierung des Kongresses tatsächlich in den Mittelpunkt gestellt worden, wären sie also ernsthaft vor die Aufgabe gestellt worden, ihre Position argumentativ zu verteidigen, kämen ihre ganze theoretische Unsicherheit und programmatische Blöße an die Oberfläche. Die Holländer und Schweizer wiederum, die mit der unermüdlichen Unterstützung von Walter Gropius die Berliner Sitzung in harmonischer Allianz bestritten, waren während ihres gesamten Verlaufs bemüht, alle aufkommenden Differenzen verfahrenstechnisch zu neutralisieren. Sie wollten möglichst schnell und schmerzlos das in Zürich im Winter desselben Jahres Beschlossene auch in Berlin in seiner nun erweiterten und präzisierten Form bestätigt wissen und durchsetzen. Und Mies Intervention drohte gerade das zu verhindern. So blieb der Funke, der mit seinem kurzen Beitrag augenblicklich aufblitzte, letztlich folgenlos.
Über diese taktischen Schachzüge ihrer Urheber hinaus hatten aber auch die Leitlinien zum Kongress, die der Berliner Tagung zur endgültigen Bestätigung vorgelegt wurden, empfindliche Schwachstellen, die nicht zuletzt in den Diskussionen an den beiden Sitzungstagen direkt oder indirekt sichtbar wurden.
Die wenigsten der Teilnehmer der Berliner Tagung gingen auf die Inhalte der Richtlinien ein, deren Kern ja die Untersuchung der bestehenden Stadt unter dem Gesichtspunkt der „vier Funktionen“ bildete. Manche konnten selbst mit dem Begriff „Funktion“ nichts anfangen: Am extremsten brachte dies der tschechische Delegierte Nesis zum Ausdruck: „Es gibt keine funktionelle Stadt“, sagte er. „Die Stadt hat keine Funktionen“![25]Andere wiederum, wollten sich mit der Verbindlichkeit der „graphischen Normen“, die von der holländischen Gruppe für die Kartierung vorgelegt wurden, nicht abfinden und forderten ihre grundlegende Überprüfung. So hielt der schwedische Vertreter Åhrén andere, bereits angewandte Systeme der Stadtanalyse für tauglicher, ohne jedoch welche davon zu nennen. [26] Der belgische Vertreter Verwilghen sprach von der Abhängigkeit der Stadt von „ökonomischen Funktionen“ und regte das Herausgreifen aus dem Gesamtzusammenhang und die Untersuchung einer einzigen der „vier Funktionen“, der „Arbeit“, an, womit die Eigenschaft der Stadt als „wirtschaftlicher Faktor“ zum Ausdruck käme.[27] Ernst May machte darauf aufmerksam, dass analytische Werkzeuge, die man bei der Untersuchung kapitalistischer Städte entwickelt habe, sich bei ihrer Anwendung auf die sozialistische Stadt als untauglich erweisen mussten.[28] Charakteristisch ist, dass selbst der Begriff „funktionelle Stadt“ in den Stellungnahmen der meisten Teilnehmer der zweitägigen Versammlung gemieden wurde.
Dem Titel des Kongresses – „Die funktionelle Stadt“ – haftete vor dem Hintergrund seines Programms von Anfang an eine gewisse Ambiguität an, die in den Debatten im Vorfeld und in den Verhandlungen während des 4. CIAM-Kongresses sichtbar wurde. Er konnte als deskriptiver Begriff aufgefasst werden, bezeichnend für die Intention, die Stadt aus der Perspektive ihrer Funktionen zu betrachten, aber auch als präskriptiver, in dem Sinne, dass der Kongress auf die Entwicklung der Mittel und Instrumente abzielte, die die Überführung der Stadt in ein funktionierendes Ganzes ermöglichen würden. Für die zweite Variante sprechen die Diskussionen um den Titel des Kongresses. Der Begriff „funktionelle Stadt“ ergab sich als Konsensbegriff[29] nach einem recht mühsamen Gärungsprozess, während dessen zunächst andere Alternativen zur Disposition standen, so „Der Weg zur neuen Stadt“ (Gropius), „Der Weg zur organischen Stadt“ (May) und „Die konstruktive Stadt“ (Häring). Auf letztere Variante hatte man sich sogar zunächst geeinigt. Alle diese Titelvorschläge bezogen sich auf das urbane Zukunftsprojekt, nicht auf die Bestandsaufnahme der aktuellen Stadt.[30]
Wie die Berliner Debatte zudem zeigte, war die Fokussierung auf den Begriff „Funktion“ nicht unproblematisch. Niemand schien sich darüber im Klaren zu sein, was darunter wirklich gemeint und zu verstehen war. Diese Unklarheit blieb bis zum Ende des Kongresses bestehen – und darüber hinaus! Bis heute wird der Begriff in der Architekturvulgata inflationär gebraucht. Nichtsdestotrotz hat sich an seiner Unschärfe und Fragilität nichts geändert. In der einschlägigen Forschung scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass der Terminus „Funktion“ sich auf einem semantischen Feld bewegt, auf dem Eigenschaften der Architektur wie ihre Gebrauchsdienlichkeit, ihre Annehmlichkeit, ihre Nützlichkeit, ihre Zweckmäßigkeit und (bei deutschsprachigen Rednern) ihre Sachlichkeit angesprochen oder verhandelt werden,[31] allesamt Begriffe, über die es seit der vitruvischen „Utilitas“ eine zweitausendjährige Tradition des Nachdenkens in der Architektur gibt und die oft so verwendet wurden und immer noch werden, als wären sie gegenseitig beliebig austauschbare Synonyme.[32] Der Begriff der „Funktion“ in der architekturspezifischen Rede war allerdings neueren Datums und wurde seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts als Teilvermögen des Gesamtsystems Architektur und stets in Kombination mit ihren anderen Vermögen betrachtet, so dem konstruktiven und/oder dem formal-ästhetischen. Was nun aber den modernistischen Diskurs allgemein und den CIAM-Funktionalismus im Besonderen von den ihm vorangegangenen Auffassungen unterschied, war die rigorose Loslösung der Funktion von konstruktiven Belangen und formalem Ausdruck, und ihre ausschließliche Anbindung an eine soziale Problematik.[33] Für die moderne Architektur war die Auslegung des Begriffs Funktion in einem derart exklusiven Sinn spätestens seit Adolf Behnes „Der moderne Zweckbau“ festgestellt.[34] Die Übertragung des Funktionsgedankens auf den Städtebau wiederum war, so nebulös die Vorstellungen darüber auch sein mochten, eine Aufgabe, der sich vor allem die CIAM seit ihrer Gründung annahmen. Die Folgen dieser Bemühung können kaum überschätzt werden. Mit der völligen Lostrennung der funktionalen von formalen und konstruktiven Erwägungen erfolgte eine Verschiebung des architektonischen Selbstverständnisses. Die Architektur und mit ihr der Städtebau mutierten im Bewusstsein ihrer modernen Akteure zu einer mit baulichen Mitteln operierenden Sozialtechnik und der Diskurs darüber hob vom Feld der einschlägigen Denktraditionen der Disziplin ab. Eine Archäologie des Funktionsbegriffs müsste folgerichtig das architekturtheoretische Bezugsfeld verlassen und sich auf jenes der Sozialwissenschaften begeben. Dessen genaue Erfassung im Falle der CIAM fällt aber auch unter solchen Gesichtspunkten schwer.[35] Denn wonach die Richtlinien zum Kongress zunächst verlangten und was dann auch in den Verhandlungen im Kongress selbst im Sommer 1933 als Basis der Diskussionen vorgelegt wurde, waren Pläne von 34 Städten mit darauf ausgewiesenen Nutzungsbereichen, gegliedert nach den Kategorien oder „Funktionen“ Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr. Legitim wäre zunächst die Frage, ob diese Kategorien umfassend genug und differenziert genug waren, um die Komplexität der Stadt, die nicht nur der Präsident der Organisation feststellte, vollständig zu beschreiben. Die wiederholt vorgetragene Forderung nach Einfachheit bei ihrer Bestandsaufnahme[36] schien jedenfalls dem grundsätzlichen Befund der Komplexität direkt zu widersprechen. Das war jedoch nur die Spitze des Eisbergs, denn das gravierendste Problem bestand darin, dass die auf den Karten eingezeichneten Bodennutzungen noch gar keine Funktionen darstellten. Höchstens als räumliche Kristallisation funktionaler Abläufe könnten sie aufgefasst werden. Aber selbst da ginge das Hauptmoment einer funktionalistischen Sicht der Stadt abhanden. Denn – folgt man dem soziologischen Paradigma –[37] sind funktionale Abläufe Anpassungsprozesse an „vorgegebene materielle Milieubedingungen“. Dies wiederum erfordert eine Vorstellung vom Normalzustand, auf den die Anpassungsleistung hinzielt. Nicht nur das prozessuale Moment fehlte aber den Karten,[38] sondern auch die Vorstellung eines zu erreichenden Normalzustandes der Stadt. Nicht zufällig war der Hauptvorwurf, der gegen die von der holländischen Gruppe und ihren Befürwortern vorangetriebene Ordnung des Diskurses erhoben wurde, dass diese lediglich auf Momentaufnahmen der zu untersuchenden Städte hinausliefe. Keine Frage, von den Karten, die 1933 präsentiert wurden, ging eine unwiderstehliche Faszination aus, die man heute noch durchaus teilen kann. Diese Faszination aber war hauptsächlich ästhetischer Natur, also gehörte einem Bereich an, der aus der Agenda von CIAM 4 prinzipiell ausgeschlossen war. Es fragt sich also, ob die gewählte Darstellungsform der gestellten Aufgabe tatsächlich entsprach. Eine Analyse auf funktionalen Gründen bedürfte womöglich nicht so sehr des Stadtgrundrisses mit darauf aufgetragenen diagrammatischen Elementen, sondern eher des abstrakten Diagramms ohne Stadtgrundriss, einer Wirkungsoberfläche von Funktionen und materiellen Wirklichkeiten, in einem vorerst noch formlosen, nicht konfigurierten Zustand.[39] Dies würde gleichsam erlauben, über den Normalzustand, den zu definieren man ohnehin nicht imstande war, hinauszugehen, den Kongress gleichsam zum Labor der Zukunft zu verwandeln. Man ließ ja keine Gelegenheit aus, um zu betonen, dass die CIAM-Kongresse im Gegensatz zu gewöhnlichen Kongresspraktiken Arbeitskongresse waren. Hier bot sich die Möglichkeit, den Nachweis dafür zu führen. Die Rolle des Diagramms wurde letztlich gewissermaßen dem verbalen Bericht übertragen. Wirft man jedoch einen Blick auf die Dokumentation der Vorträge zu den einzelnen untersuchten Städten, die am 30. und 31. Juli und am 11. August 1933 an Bord von Patris II erfolgten, so fällt deren Ertrag enttäuschend mager aus.[40]
Was nun den „Normalzustand“ angeht, der ja den „eindeutig fixierten Maßstab“ anzugeben hätte, woran gemessen werden könnte, was jeweils funktional und was dysfunktional sei, so stimmt es nicht ganz, dass jede Vorstellung davon gefehlt hatte. Diese Vorstellung wurde aber – und das war eben auch für die Soziologie von Auguste Comte bis über die zeitliche Schwelle von CIAM 4 hinaus nicht untypisch –[41]metaphorisch oder analogisch artikuliert. Effektives Funktionieren der Stadt: das Muster dazu biete der gesunde lebendige Organismus. Der vorhandenen oder der zukünftigen Stadt? – Der Stadt schlechthin! Der Titelvorschlag zum 4. Kongress seitens Erst Mays legt davon Zeugnis ab. Noch mehr die Eröffnungsrede Cornelis van Eesterens zur Ausstellung des Kartenmaterials des 4. Kongresses, die 1935 im Amsterdamer Stedelijk Museum organisiert wurde: Van Eesteren begann seine Rede mit der Frage: „Warum funktionelle Stadt?“ Und gleich danach erläuterte er: „Man spricht von der Funktion eines Teils eines lebenden Organismus, wenn man die besondere Wirksamkeit dieses Teils angeben möchte. Das Herz, die Lungen müssen gut funktionieren, falls dieses Gebilde – dieser Körper – leben bzw. funktionieren will. Dementsprechend soll jeder Teil der Stadt, das Wohngebiet, das Industriegebiet, das Entspannungsgebiet und das Verkehrssystem gut funktionieren und gesund sein, falls dieser Körper, die Stadt, leben und blühen will. Umgekehrt können die besonderen Teile nicht zum Blühen kommen und lebensfähig bleiben, falls dieser Körper nicht ausgeglichen funktioniert.“[42] Selbst der von Behne als führender Anti-Organiker apostrophierte Le Corbusier führte in La Charte d’Athènes aus: „Das Werk (der Planung) wird eine wirklich biologische Schöpfung sein, die klar definierte, organische Bestandteile umfaßt, die imstande sind, ihre wesentlichen Funktionen zu erfüllen.“[43]
Als Arthur Korn am 2. Tag der Berliner außerordentlichen CIAM-Tagung im Sommer 1931 gegen Ende der Debatte um die Richtlinien des 4. Kongresses einwarf, dass die dreißig vorgesehenen Stadtanalysen kaum imstande sein würden, zu Schussfolgerungen über die Zukunftsentwicklung der Städte zu führen, und dass sie insgesamt ein zwar detailliertes aber doch letzten Endes langweiliges Bild abgeben würden, stellte er im Grunde genommen das neben der Funktion wichtigste Standbein der Programmatik von CIAM 4, die komparative Methode und deren heuristischen Wert in Frage. Merkwürdig, dass dies keinem der Teilnehmer auffiel und dass folglich niemand sich genötigt sah, die Idee des „vergleichenden Städtebaus“ gegenüber diesem Angriff zu verteidigen. Darüber, dass die vergleichende Methode Herzstück der ganzen Unternehmung war, kann kein Zweifel bestehen. Von Anfang an war der Kongress so angelegt. Der „Vergleichende Städtebau“ sollte dann auch prominent im Titel der im Anschluss an den Kongress für eine breite Leserschaft zu erfolgenden Publikation seiner Resultate figurieren, wie aus einem Prospektentwurf hervorgeht, den der CIAM-Generalsekretär Sigfried Giedion vermutlich direkt nach dem Kongress verfasste: „Vergleichender Städtebau“ lautete die Überschrift; darüber war mit blauem Bleistift und in Majuskeln handschriftlich ergänzt: „Buchhändler-Prospekt – ‚Die funktionelle Stadt‘“. So paradox es auch klingen mag, ist dieser Prospekttext die ausführlichste in den Archivmaterialien existierende verbale Erläuterung der Absichten, die CIAM 4 mit dem „vergleichenden Städtebau“ verband:
„Der Organismus und die Lebensbedingungen der heutigen Städte kennenzulernen liegt nicht mehr allein im Interessengebiet des Spezialisten für Städtebau.
Schon aus Gründen der Übersicht und der Vergleichsmöglichkeit bestand seit langem das Bedürfnis, ausser der Organisierung der eigenen Stadt und ihres Einzugsgebietes auch die ähnlich strukturierten Städte in anderen Ländern kennenzulernen.
Dieser Überblick über die Gesamtentwicklung ist allmählich ein Bedürfnis jedes Architekten und jeder Behörde geworden, die sich ernsthaft mit städtebaulichen Problemen abgibt. Begründet liegt dieses Verlangen in der universalen Auffassung, die der heutigen Architekturentwicklung eigen ist.
Bis jetzt lagen aber nur schwache Ansatzpunkte für einen derartigen Überblick vor. Wenn überhaupt, so konnte nur durch persönliches Einzelstudium Einblick in die Funktionen und Lebensbedingungen der verschiedenen Städte gewonnen werden.
Für dieses Gebiet, für das wir als ganzes den Namen
‚VERGLEICHENDER STÄDTEBAU‘
vorschlagen möchten, braucht es zuallererst eine Analyse bestehender Städte nach einheitlicher Methode (gleicher Massstab, Anwendung gleicher Zeichen und gleicher Farben für gleiche Funktionen).
Auf diese Weise besteht für Städtebauer, Architekten, Behörden, ja für den interessierten Laien die Möglichkeit, bestimmte Auskünfte über die Lebensbedingungen der heutigen Städte zu erhalten, die wirklich vergleichsfähige Pläne aufschlussreicher und tiefgreifender zu geben vermögen als noch so vollständig ausgearbeitete Statistiken und Publikationen.“[44]
Mit dem „Vergleichenden Städtebau“ setzte der CIAM 4 eine Marschroute fort, die die Organisation bereits in ihren beiden vorangegangenen Kongressen eingeschlagen hatte, in dem zweiten Frankfurter Kongress von 1929 über die „Wohnung für das Existenzminimum“ und im dritten Brüsseler von 1930 über „Rationelle Bebauungsweisen“. Im ersten Fall bildeten im gleichen Maßstab und in gleicher Graphik dargestellte 105 Wohnungsgrundrisse von Ein-, Zwei- und Mehrfamilienhäusern die Grundlage des Diskurses, im zweiten Einheitspläne von 56 Beispielen des Siedlungsbaus. In den Ausstellungen, die die Kongresse begleiteten, wurde dieses Material in parataktischer Ordnung zur Schau dargeboten.[45]
Der 4. Kongress hätte sich aber außer auf die eigene Vorgeschichte durchaus auch auf eine lange komparatistische architekturtheoretische Tradition berufen können. Graphische Form erhielt sie zuerst mit Sebastiano Serlios Darstellung der fünf antiken Säulenordnungen auf einem einzigen Blatt im IV. Buch seines Architekturtraktats zum Thema Regole generali di architettura sopra le cinque maniere degli edifici (1537), die von Vignola in seiner Regola (1562) wiederaufgegriffen wurde und in der „Säulenbuch“-Literatur bis ins 19. Jahrhundert fortgesetzt wurde. Eines der letzten Beispiele der Gattung war sicher Charles Normands Nouveau parallèle des ordres d’architecture des Grecs, des Romains et des auteurs modernes (Paris 1852), in dem der Autor die Säulenordnungen sowohl einem synchronischen als auch einem diachronischen Vergleich unterzog. Die Gattung der « Parallèle » wiederum wurde, noch bevor sie mit Charles Perrault in die moderne Literaturtheorie Einzug erhielt (1688),[46] von Roland Fréart de Chambray mit seiner Parallèle de l’architecture antique et de la moderne (Paris 1650) in den architektonischen Diskurs eingeführt und fand ihren Höhepunkt mit Jean Nicolas Louis Durands 150 Jahre später erschienenem Recueil et parallèle des édifices de tous genre anciens et modernes, in dem jedoch nicht mehr wie in der früheren Literatur die Säulenordnung sondern die Gebäudegattung im Mittelpunkt der Betrachtung stand. Die auf den 90 Tafeln des Buches aufgeführten historischen und aktuellen Beispiele waren selbstverständlich in einheitlichem Maßstab gezeichnet. Durand verfolgte dabei einen zugegebenermaßen recht bescheidenen Anspruch. Denn wie er im Vorwort seines Buches notierte, wollte er mit dieser Publikation dem interessierten und dem auf einschlägige Informationen angewiesenen Leser den Rückgriff auf dreihundert unterschiedliche Bücher (zumeist Foliobände) ersparen und in einem Buch alle wichtigen Gebäude aller Länder und aller Zeiten zusammentragen.[47] Knapp ein Jahrhundert später, im Jahre 1896, setzte Banister Fletscher den Begriff „komparative Methode“ als Untertitel seines (aktuell in der 20. Auflage stehenden) A History of Architecture ein. Um die geographischen, sozialen und historischen Einflüsse auf die Architektur zur Geltung zu bringen, notierte der Autor im Vorwort der ersten Auflage des Buches, wie auch „the qualities of the styles themselves, a comparative and analytical method has been adopted, so that by the contrast of qualities the differences may be more easily grasped.“[48] Über diese Tradition wurde von den CIAM-Architekten hinweggesehen und dazu gibt es eine einfache Erklärung: Zu sehr waren die historischen Anwendungsbeispiele der Vergleichsmethode auf formale Ausprägungen der Architektur bezogen, um mit einer Architekturauffassung, die die Frage der Funktion verabsolutierte und sie von anderen architektonischen Interessen abkoppelte, kompatibel zu sein. Was dabei freilich mit verloren ging, war der Erkenntnisertrag, den man womöglich in methodologischer Hinsicht aus dieser langen Erfahrung hätte ziehen können. Der Drang, den man offensichtlich verspürte, das Rad der Architektur und des Städtebaus von Grund auf neu zu erfinden, war so stark, dass selbst Erfahrungen jüngeren Datums aus dem Bereich des Städtebaus ignoriert wurden. Dabei waren weder die Internationalisierung des Städtebaudiskurses noch die Stadtkomparatistik eine CIAM-Erfindung. Angefangen mit der Internationalen Stadtplanungskonferenz des RIBA in London im Jahre 1910 und mit vielleicht markantestem Beispiel den Ersten Internationalen Stadtplanungskongress in Gent 1913,[49] war der Städtebau bereits vor dem Ersten Weltkrieg dabei, ein disziplinspezifisches Esperanto zu erlernen und die nationalen Erkenntnisse in einen internationalen Vergleich zu stellen.[50]
„Die gesamte Sozialforschung“, stellt Immanuel Wallerstein aphoristisch fest, „arbeitet notwendigerweise explizit oder implizit mit Vergleichen zwischen Fällen, die Variablen der einen oder anderen Art enthalten. Daher ist die gesamte Sozialforschung per definitionem komparativ, womit das Adjektiv komparativ redundant wird.“[51] Diese Universalität der Methode[52] brachte bereits Auguste Comte zum Ausdruck, als er in seinem Cours de philosophie positive schrieb, dass die Vergleichsmethode „das wichtigste wissenschaftliche Hilfsmittel der Soziologie“ sei oder Émile Durkheim, der in seinen Règles die Vergleichende Methode als die „einzige, welche der Soziologie entspricht“, bezeichnete. Für den besonderen Fall der vergleichenden Stadttheorie notiert Jan Nijam, dass dessen Ziel es sei, „zu Erkenntnis, Verständnis und allgemeinen Schlussfolgerungen auf einer Ebene zu gelangen, auf der beurteilt werden kann, was für alle Städte beziehungsweise was für eine Stadt zu einem gegebenen Zeitpunkt gilt“[53]. Seine Formulierung ließe sich problemlos auf die Situation in den 1930er Jahren übertragen. Die CIAM-Komparatistik setzte sich jedoch nicht nur von den einschlägigen Traditionen der Disziplin ab. Als methodischer Ansatz, der ähnlich wie der CIAM-Funktionsbegriff Produkt des „sociological turn“ der CIAM-Perspektive war, erfuhr sie von den Vertretern des Leitdiskurses von CIAM 4 eine Auslegung sui generis, die sich auch von der vergleichenden Analytik, die von benachbarten Disziplinen praktiziert wurde, spürbar unterschied. An zwei wichtigen Punkten ist dieser Unterschied festzumachen, der insgesamt als eine Verengung der Handlungsspielräume der vergleichenden Methode gewertet werden kann. Man entschied sich, erstens, für einen synchronischen Vergleich und ließ dabei die Potenzialitäten einer diachronischen vergleichenden Analyse außer Acht.[54] Vom vergleichenden Ansatz würde man des Weiteren erwarten, die Analysen der einzelnen Städte im Spiegel der Analysen aller Städte zu betrachten, um daraus ermitteln zu können, welche Aspekte der Teilanalysen einer partikularen und welche einer universalen Ordnung gehörten. Die CIAM waren aber, zweitens, nur an jenen Aspekten interessiert, die eine vermeintlich allgemeine Geltung besaßen. Den Direktiven für die Ausstellung „Die funktionelle Stadt“, die am 3.-9. August 1933 in Begleitung des öffentlichen Teils des Kongresses in Athen stattfinden sollte, wurde zwar ein Register der untersuchten Städte angehängt, das die Ordnung der Ausstellung angab, auf dem die 34 Beispiele in sieben Kategorien gegliedert erschienen. Diese Kategorisierung hatte aber keine weiteren Folgen auf den Diskurs.[55] Im Gegenteil: in der Debatte über die Auswertung der Fragebögen, die am 4. August an die Delegierten verteilt worden waren und in ihrer beantworteten Form als Grundlage für die Resolutionen des Kongresses dienen sollten, entschied sich die dafür eingesetzte Kommission dazu, die spezifischen Details der Einzelfälle auszulassen und stattdessen den Nachdruck auf die „allgemeinen Krankheiten“ der 30 Städte zu legen.[56] Das führte dann im Schlussdokument des Kongresses zu lapidaren Formulierungen wie: „Um einen wirklichen Einblick in die Organisation der heutigen Städte und ihre allgemein bekannten Missstände zu gewinnen, wurde die Untersuchung auf möglichst breiter Basis geführt.“[57] (Es fragt sich in der Tat, weswegen man sich der Mühe unterzogen hatte, wenn doch die urbanen Kachexien von Anfang an bekannt waren.) Die Verkürzung der komparatistischen Perspektive durch ein derartiges Verfahren war aber nicht das Hauptproblem des Kongresses. Weit wichtiger wiegt die Tatsache, dass es in dessen Verlauf zu einem wirklich vergleichenden Diskurs gar nicht erst gekommen ist. Nicht nur weil eine Vorstellung darüber fehlte, wie man diese Aufgabe praktisch zu bewerkstelligen hätte, sondern vor allem weil man sich mit den Zielsetzungen des Kongresses, wie mancher Delegierter auch tatsächlich monierte, eindeutig übernommen hatte. Die Städtepräsentationen waren eine auf drei Tage verteilte Aneinanderreihung von Vorträgen auf Grundlage des sie jeweils begleitenden Kartenmaterials. Für eine umfassende Analyse und noch mehr für eine tiefgreifende vergleichende Untersuchung der vorgestellten Fälle war die Zeit objektiv viel zu knapp. Außerdem fehlte es an einem Instrumentarium, welches erlauben würde, etwaige Einsichten aus der Diskussion in einen beschlusstauglichen Zustand überzuführen. Man griff natürlich auf das „bewährte“ Mittel des Fragebogens zurück, den man in Athen verteilt hatte. Gegliedert war dieser nach den „vier Funktionen“ und die Delegierten sollten in knapper Form darauf eingehen, einerseits im Sinne einer Diagnostik der Missstände bestehender Städte andererseits im Sinne von Forderungen zu ihrer Verbesserung. Als dies geschah, stand ein Drittel der Vorträge noch aus, und das blieb so, selbst als die für die Resolutionen zuständige Kommission ihre Arbeit an der Formulierung der Beschlüsse in Angriff nahm, die dann später unter der bescheideneren Bezeichnung „Feststellungen“ erschienen. Durch diesen Vorgang war aber der so genannte „analytische“ Teil des Kongresses vom „synthetischen“ Teil endgültig separiert. Von einem „vergleichenden Städtebau“ ist nicht sonderlich viel übriggeblieben. Das, gemessen an den anfänglichen Zielsetzungen, wichtigste Resultat war die Sammlung der Stadtpläne von gut dreißig Städten mit den entsprechenden Berichten, sozusagen eine Art Encyclopædia Civica, wie sie Patrick Geddes knapp dreißig Jahre früher gefordert hatte.[58]
Von dieser Bemerkung unberührt bleibt die nachhaltige Wirkung der „Charta“ und der nahezu mythische Schleier, der den 4. Kongress umhüllt.
[1] „Delegiertenversammlung des Internationalen Kongresses für neues Bauen am 25. September 1930 im Palmengarten zu Frankfurt a/M.“ CIAM-Archiv, gta/ETH Zürich.
[2] Protokoll der ersten Plenarsitzung (5. Juni 1931) der Außerordentlichen Tagung der intern. Kongresse für neues Bauen, 5. Juni 1931, S. 16 (Im weiteren Verlauf des Textes erscheinen Verweise auf die außerordentliche Berliner Tagung in folgenden Abkürzungen: Berlin I, Seitenzahl des Protokolls für die erste Plenarsitzung am 5. Juni 1931bzw. Berlin II, Seitenzahl des Protokolls für die zweite Plenarsitzung am 6. Juni 1931. Die beiden Protokolle befinden sich im CIAM-Archiv des gta-Instituts der ETH Zürich).
[3] Die „‘Was ist das?‘-Frage“.
[4] Platon, Menon 80d, nach: Martens, Ekkehard, Die Sache des Sokrates, Stuttgart 1992, S. 67.
[5] Die Erklärung von La Sarraz (1928), in: Steinmann, Martin (Hrsg.), CIAM. Dokumente 1928-1939, Basel und Stuttgart 1979, S. 28f.
[6] Die Richtlinien für den 4. Kongress, in Steinmann, S.115.
[7] „Stadtbau kann niemals durch ästhetische Überlegungen bestimmt werden, sondern ausschliesslich durch funktionelle Forderungen“, hieß es in der Erklärung von La Sarraz (Steinmann, 28). Im „Bericht über die Kommissionssitzung zur Vorbereitung des 4. Internationalen Kongresses, Moskau 1932“ (Zürich, 15. Februar 1931, CIAM-Archiv gta/ETH Zürich) wurde zu den Richtlinien des 4. Kongresses festgehalten:“… man soll nicht von der stadt-form ausgehen, sondern von der funktion, von den lebensbedürfnissen arbeit, erholung verkehr.“ (S. 4). Die Vorstellung vom „verzweigten Komplex“ äußerte van Eesteren in seiner Stellungnahme in Berlin (Berlin I, S. 16).
[8] Van Eesteren, Berlin I, S.19. Van Eesteren bezog seine Ausführungen über Stadtneugründungen ausdrücklich auf Russland und Australien. Der in den Richtlinien geforderte analytisch-kritische Teil der Untersuchungen war selbstverständlich an eben solchen Fällen nicht anwendbar. Höchstens die allgemeinen Erkenntnisse aus den Analysen bestehender Städte könnten auch für sie von Relevanz sein. Die holländische Gruppe schlug die Trennung dieser beiden Kategorien – bestehende und neu zu gründende Städte – und der einschlägigen Fragen vor, denn „sie sollen aufeinander wirken, aber nicht durcheinander gebracht werden.“ Wie das zu erfolgen hätte, blieb unklar. Dies hatte aber letzten Endes keine weiteren Konsequenzen, denn nachdem der Entschluss gefasst wurde, den 4. Kongress nicht in Moskau abzuhalten, und daraufhin die sowjetische Komponente des Kongresses insgesamt wegfiel, wurde die Problematik der Stadtneugründungen obsolet. Auch wurde auf dem Kongress kein australisches Beispiel vorgestellt.
[9] In Berlin war freilich selbst van Eesteren der Auffassung, dass der 4. Kongress, der nach der damaligen Planung im darauffolgenden Jahr in Moskau stattfinden sollte, tatsächlich nur einen Teil der Problematik der modernen Stadt würde behandeln können. So schlug er etwa als Referatsthemen für Moskau allesamt Gegenstände vor, die mit dem „Wohnen“ befasst sein sollten. „Das ist nur ein Teil der funktionellen Stadt“, fügte er hinzu.“Die Frage der funktionellen Stadt als ganzes, also mehr allgemein gefaßt, kann dann wieder auf einem nächsten Kongress bearbeitet werden.“ (Berlin I, S. 25f.) Korn kritisierte aber eine Ausschnitthaftigkeit ganz anderer Art.
[10] Berlin I, S. 27-31.
[11] Berlin II, S. 26.
[12] Berlin I, S. 34.
[13] Nesis, Berlin II, S. 28.
[14] Korn, Berlin II, S. 26 und Entgegnung von van Eesteren.
[15] Syrkus, Berlin II, S. 7f.
[16] Gropius, Berlin I, S. 54.
[17] Mendelsohn, Berlin I, S. 58.
[18] „Die Stadt ist der architektonische Ausdruck einer politischen Herrschaft und einer sozialen Ordnung und Schichtung, die besteht, oder von der man wünscht, daß sie bestehen soll.“ Berlin II, S. 2
[19] Lehr, Berlin II, S. 3.
[20] Åhrén, Berlin II, S. 5.
[21] Syrkus, Berlin II, S. 6.
[22] May, Berlin II, S. 16-17.
[23] Mies, Berlin I, S. 49.
[24] Mies van der Rohe, Ludwig, Die neue Zeit, Rede gehalten auf der Wiener Tagung des Deutschen Werkbundes, 22.-26. Juni 1930, in: Neumeyer, Fritz, Mies van der Rohe – Das Kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. Berlin 1986, S. 372.
[25] Nesis, Berlin I. S. 35.
[26] Åhrén, Berlin II, S. 5.
[27] Verwilghen, Berlin I, S. 32 und II, S.13.
[28] May, Berlin II, S. 18.
[29] Als offizielles Thema des Kongresses stand „Die funktionelle Stadt“ seit der Zürcher Kommissionssitzung vom 15. Februar 1931 fest, wobei „die zürcher kommission (…) vor allem darauf aufmerksam (machte), dass das Thema ‚funktionelle Stadt‘ voraussichtlich über verschiedene kongresse ausgedehnt werden müsse“. Siehe Bericht, S. 3.
[30] Delegiertenversammlung des Internationalen Kongresses für neues Bauen am 25. September 1930 im Palmengarten zu Frankfurt a/M. Protokoll, S. 21-22. An der Versammlung nahmen Karl Moser, Giedion, Aalto, Bourgeois, Forbat, Ginsburger, Gropius, Häring, May, Neutra, Rietveldt, Schmidt, Stam, Steiger, Sundbärg und Syrkus teil. Der Begriff „konstruktive Stadt“ tauchte in der Berliner außerordentlichen Tagung von 1931 in einem Redebeitrag von Alvar Aalto wieder auf – eher beiläufig und wohl als eine Art Lapsus memoriae.
[31] Zuletzt: Forty, Adrian, Words and Buildings. A Vocabulary of Modern Architecture, London 2000. Zum selben Thema siehe auch: Collins, Peter, Changing Ideals in Modern Architecture 1750-1950, London 1965, Seiten 149-182.
[32] So schrieb beispielsweise 1957 Edward de Zurko ein Buch über die Ursprünge funktionalistischer Architekturtheorie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in dessen größtem Teil er sich mit einer Periode befasste, in der der Begriff „Funktion“ im Architekturdiskurs noch gar nicht im Umlauf war. De Zurko, Edward Robert, Origins of Functionalist Theory, New York 1957.
[33] “The literature of functionalism before the twentieth century”, schreibt Larry LeRoy Ligo, “generally dealt with the relationship between function and beauty in form; beginning in the twentieth century, aesthetic criteria have been abandoned and functionalist writing tends to deal rather with value or worth of buildings than with beauty per se, or with function as an end in its own right rather than as a means to an end..”. Ligo, Lary L, The Concept of Function in Twentieth-Century Architectural Criticism, An Arbor / Michigan, 1984 (1974), S. 8.
[34] „An Stelle einer formalen Auffassung von Baukunst trat eine funktionale. Zweckbauten – das war früher eine bestimmte, inhaltlich determinierte Gruppe von Gebäuden, eine Verbindungsgruppe zwischen den freien architektonischen Schöpfungen der Baukünstler und den nackten Nutzbauten der Ingenieure und Techniker. Jetzt ist jeder Bau ein Zweckbau – d. h. er wird von seiner Bestimmung, von seiner Funktion aus angegriffen.“ Behne, Adolf, Der moderne Zweckbau, München 1926, S. 11.
[35] Ganz zu schweigen davon, dass der Funktionsbegriff selbst in der Soziologie nicht nur eine bewegte Karriere hatte, sondern auch eine schwankende Definition erfuhr: „But it has become notorious that ‚functionalism‘ is understood in a variety of ways by different authors, both sympathetic and critical“, notiert Anthony Giddens (Functionalism: Après la lutte, in: Social Research, Vol. 43 (1976), H. 2, Seiten 325-366, hier: 328).
[36] „Die Unterlagen sollen so elementar und einfach wie möglich sein, wie es bei den Karten versucht ist, die ich hier habe aushängen lassen“, sagte van Eesteren in seiner Einführungsrede in Berlin, bevor er dazu überging, die Stadtpläne von Amsterdam, die die holländische Gruppe vorbereitet hatte und als Beispiel für die von allen CIAM-Gruppen zu leistende Arbeit dienen sollten, zu erläutern. Berlin I, S. 19.
[37] Hierfür wurden die Auffassungen Émile Durkheims zugrunde gelegt, der den Funktionalismus in der Soziologie richtungsgebend eingeleitet hat. Vgl.: Steinbeck, Brigitte, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs in der positiven Soziologie und in der kritischen Theorie der Gesellschaft, in: Soziale Welt, 15 (1964), H. 2, Seiten 97-129, hier 100-102.
[38] Es ist bezeichnend, dass für den Verkehr, also die „Funktion“, die (wie bereits 1928 festgelegt) die drei anderen „Funktionen“ verband, eine separate Karte vorgesehen war. So wurde auf eine Sichtbarmachung der Wechselwirkungen zwischen Bewegungsabläufen und Stadtbereichen verzichtet. Insgesamt waren drei Karten obligatorisch: Eine für die „Funktionen“ des Wohnens, des Arbeitens und der Erholung im Maßstab 1:10000, eine für den Verkehr im Maßstab 1:10000 und einer dritten im Maßstab 1:50000, die die Stadt mit ihrem geographischen Umfeld zum Thema hatte, in dem alles zusammengetragen wurde.
[39] Deleuze, Gilles, Foucault, Minneapolis und London 1988, S. 34.
[40] Annales Techniques, BIV (1933), H. 44, 45, 46, S. 1169-1179.
[41] Sorokin, Pitirim, Contemporary Sociological Theories. New York 1928. Darin: Kapitel IV, Biological Interpretation of Social Phenomena: Bio-Organismic School, S. 195-218. „Angewandt auf menschliche Gesellschaften stützt sich das Konzept der Funktion auf eine Analogie zwischen sozialem und organischem Leben“, schrieb A. R. Radcliffe-Brown im Jahr 1935 (On the Concept of Function in Social Science, in: American Anthropologist, 37 [1935], H 3.1, S. 394-402, hier: 394). Zu einer umfassenden Kritik der organischen Analogie wie des Funktionalismus in der Soziologie im Allgemeinen siehe: Giddens, wie Anm. 35.
[42] van Eeesteren, C., Ter Inleiding, in: De 8 en Opbouw, De Functioneele Stad, No 10/11, 25. Mai 1935, 105ff.
[43] Schon am zweiten Tag des Kongresses, am 30. Juli 1933, bezeichnete Le Corbusier die vorgestellten Pläne als eine „Biologie der Welt“ (Mumford, Eric, The CIAM Discourse on Urbanism, 1928-1960, Cambridge, Ma. 2000. S. 79). Diese „Welt“ bestand freilich aus 34 Städten, von denen nur insgesamt 5 außereuropäisch waren. Die von Le Corbusier 1943 verfasste La Charte d’Athènes (Le Corbusier, An die Studenten. Die „Charte d’Athènes“, Reinbek b. Hamburg 1962, hier: S. 124) war bekanntlich ein (von den CIAM selbst nicht autorisiertes) Manifest zur „funktionellen Stadt“, das von den Beschlüssen des 4. Kongresses an manchen Stellen abwich. Im öffentlichen Bewusstsein erhielt dieser Text gleichwohl im Hinblick auf den 4. Kongress und auf die städtebaulichen Ideen der klassischen Moderne im Allgemeinen einen kanonischen Stellenwert. Nicht so verhielt es sich mit dem von José Luis Sert verfassten Buch Can Our Cities Survive? An ABC of Urban Problems, Their Analysis, Their Solutions, das mit CIAM-Copyright erschien (Cambridge, Ma. 1942), und von dessen Autor als Popularisierung des Gedankens der „funktionellen Stadt“ gedacht war. Die erste genuine und einzige Kongress-Publikation, die den Bericht über dessen Verlauf, eine Reihe von an den Kongress gerichteten Redebeiträgen und dessen Ergebnisse enthielt, erschien als Sonderheft der Zeitschrift der griechischen Technikerkammer „Technika Chronika“ (Oktober/November 1933) in französischer und griechischer Sprache (s. Anm. 40). Der französische Titel derselben lautete „La ville fonctionelle“, der griechische «Η οργανική πόλις» (= Die organische Stadt). Die beiden Begriffe erschienen irgendwie austauschbar. Dennoch spielte die organische Metapher im theoretischen Horizont der CIAM eine insgesamt beiläufige Rolle. Seit spätestens Bruno Zevis Verso un’architettura organica (Torino 1945) hat sich in der Architekturtheorie und -kritik die Denkgewohnheit etabliert, den Stempel des „Organischen“ exklusiv Architekturen aufzudrücken, die von der strengen Rektangularität abweichen oder elementare geometrische Figuren meiden (zuletzt umfassend: Sabine Brinitzer, Organische Architekturkonzepte zwischen 1900 und 1960 in Deutschland, Frankfurt am Main 2006). Auf die Architektur scheint jedoch zuzutreffen, was Isabel Wünsche für die Kunst der klassischen Moderne allgemein nachweist, dass nämlich kein spezifisches Formvokabular ausschließlich dem Organizismus zuzuordnen sei (Wünsche, Isabel, Organische Modelle in der Kunst der klassischen Moderne, in: Geiger, Annette, Stefanie Hennecke, Christin Kempf [Hrsg.], Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin 2005, S. 97-111). Die landläufige Meinung, nach welcher weiche Formen und Kurvenlinien einer organischen, gerade Linien und rechte Winkel einer rationalen Auffassung entsprächen, sind irreführend und unzutreffend. Die „biological fallacy“ (der zunächst von Geoffrey Scott in seinem The Architecture of Humanism – A Study in the History of Taste [Boston und New York 1914] verwendete Begriff wurde in jüngerer Zeit von Philip Steadman [The Evolution of Designs – Biological analogy in architecture and the applied arts, London und New York 1979, revised edition 2008] erweitert und verfeinert) wirkt über Stilgrenzen hinweg; im Falle der CIAM vorzugsweise dort, wo sich die Grenzen der Architektur und des Städtebaus mit denjenigen der Soziologie berühren.
[44] Typoskript im CIAM-Archiv, gta/ETH Zürich.
[45] Internationale Kongresse für Neues Bauen und Städt. Hochbauamt Frankfurt-M. (Hrsg.), Die Wohnung für das Existenzminimum, Frankfurt am Main 1930 (für die Wohnungsgrundrisse wurde der Maßstab 1:10 gewählt; die letzten sieben Beispiele waren „Sonderlösungen, darunter Hotelwohnungen, eine Schiffskabine, ein Hotelzimmer). Und: Internationale Kongresse für Neues Bauen (Hrsg.), Rationelle Bebauungsweisen, Stuttgart 1931 (die Siedlungspläne waren im Maßstab 1:3000 dargestellt).
[46] Alle „Parallelen“ standen irgendwie im Schatten des großen antiken Vorbildes, Plutarchs Vitae parallelae. Hans Robert Jauß bemerkte dazu: Die literarische Gattung der Parallèle wurde „seit der Renaissance nach dem Vorbild Plutarchs wieder gepflegt und (hat) durch die Querelle ihre höchste Blüte erlangt (…). Sie ist vielmehr ihre unmittelbare historische Anschauungsform und geschichtsphilosophische Voraussetzung.“ Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, par M. Perrault de l’Académie Française. Mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauß und kunstgeschichtlichen Exkursen von M. Imdahl. München 1964. S. 17.
[47] Durand stützte sich auf frühere Autoren. Werner Szambien stellt die Frage, ob nicht J. B. Fischer von Erlach der Urheber einer vergleichenden Geschichte der Architektur sei (Entwurff einer historischen Architectur, 1721), hält zugleich fest, dass die erste publizierte Tafel, auf der ganze Gebäude aller Zeiten im Einheitsmaßstab dargestellt wurden, auf J.-A. Messonnier zurückgeht. Sie erschien in Verbindung mit dem Buch von Gabriel-Martin Dumont, Détails des plus intéressantes parties d’architecture de la basilique de Saint-Pierre, Paris 1763. Eine weitere Episode dieser Geschichte war eine Tafel, die in der zweiten Auflage von Julien-David Leroys berühmtem Les Ruines de plus beaux monuments de la Grèce aufgenommen wurde und auf der Tempel der Ägypter, Hebräer, Phönizier, Römer und Christen im Einheitsmaßstab in Grund- und Aufriss dargestellt waren. Szambien, Werner, Jean-Nicolas-Louis Durand 1760-1834. De l’imitation à la norme, Paris 1984, S. 27-30 und 218-219. Zu Leroy vgl. auch : Kisacky, Jeanne, History and Science: Julien-David Leroy’s Dualistic Method of Architectural History, in: Journal of the Society of Architectural Historians, 60 (2001), H. 3, S. 260- 289.
[48] Fletcher, Banister, A History of Architecture on the Comparative Method, 5. Aufl., London 1905, S. IX.
[49] Der Titel der einschlägigen Publikation lautete: Premier Congrès international et exposition comparée des villes (Brüssel 1913).
[50] Sutcliffe, Anthony, Towards the Planned City: Germany, Britain, the United States and France, 1780-1914 (Comparative studies in social and economic history 3), Oxford 1981. Besonders: Kapitel 6, Planning as an International Movement, S. 163-201.
[51] Artikel „comparative sociology “ (Immanuel Wallerstein), in: Outhwaite, William (Hrsg.), The Blackwell Dictionary of Modern Social Thought, 2. Aufl., Malden, MA 2006. S. 102f.
[52] Auf diesen Umstand ist vielleicht die Tatsache zurückzuführen, dass „eine breite und gediegene Auseinandersetzung mit den epistemologischen und methodologischen Aspekten des ‚Vergleichens‘ in den Sozialwissenschaften bislang fehlt.“ Matthes, Joachim, The Operation Called „Vergleichen“, in: ders. (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992, S. 75. Eine nützliche Einführung in die Problematik der Komparatistischen Methode ist dennoch: Neil J.Smelsers Comparative Methods in the Social Sciences (Englewood Cliffs, N.J. 1976).
[53] Nijam, Jan, Introduction – Comparative Urbanism, in: Urban Geography, 28 2007), H. 1, S. 1-6, hier:1.
[54] Im Nebeneffekt entwich man damit auch dem Druck vor allem von Seiten der marxistisch orientierten Mitglieder, die im Zuge der Kongressvorbereitungen darauf bestanden hatten (Berlin, 1931), aus der historischen Retrospektive zu Erkenntnissen darüber zu gelangen, weswegen die Stadt so geworden sei, wie man ihr aktuell begegnete. Nachdem aber Moskau als Austragungsort des 4. Kongresses weggefallen war und angesichts der Zerschlagung des Neuen Bauens und speziell seiner marxistischen Komponente durch die Nazis in Deutschland, war dieser Druck im Kongress selbst ohnehin faktisch nicht mehr vorhanden. Auf dem Dampfer Patris II und in Athen waren die Vertreter des CIAM-Leitdiskurses und ihre Freunde sozusagen unter sich. Aus dem CIAM-Horizont verschwand gleichsam die „sozialistische Stadt“, die an der außerordentlichen Berliner Tagung die Geister der Delegierten in nicht unerheblichem Maße aufgewühlt hatte.
[55] Diese Kategorien waren: Metropolen, Verwaltungs- und Wohnstädte, Hafenstädte, Industriestädte, Erholungsstädte, Städte mit verschiedenen Funktionen, neue Städte (Annales Techniques, S. 1164). Diese Kategorisierung erinnert an die Stadttypologien Max Webers: Städte des Konsums, Städte der Produktion, des Handels, der Industrie, Zentren und abhängige Städte (Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Teil, Kapitel VIII: Die Stadt, § 1: Begriff und Kategorien der Stadt, S. 513-527). Doch bei Weber war die Kategorienbildung Produkt der Analyse der Stadtinstitutionen und hatte mit der Vier-Funktionen-Matrix der CIAM nichts zu tun.
[56] Somer, Kees, The Functional City. The CIAM and Cornelis van Eesteren, 1928-1960, Rotterdam und Den Haag 2007, S. 171. Zum Verlauf der Arbeiten des CIAM 4 vom 29. Juli bis 13.August 1933 siehe auch: Eric Mumford, Seiten 78-85.
[57] Feststellungen des 4.Kongresses „Die Funktionelle Stadt“, Steinmann, S. 160-163.
[58] Geddes, Partick, Civics: as Applied Sociology (Read before the Sociological Society at a Meeting in the School of Economics and Political Science, University of London on Monday, July 18th, 1904), in: ders.: Sociological Papers, London 1905, S. 104-118, hier: 118.